- PHILOSOPHIE TO GO -
DIE TÄGLICHEN
“WORTE DER WEISHEIT”
Kehre zurück ins Unbewußte: dann kehren alle Wesen zurück zu ihrer Wurzel.
Das Zitat stammt von dem chinesischen Philosophen Zhuangzi und lautet im Zusammenhang:
„Ach, wenn dein Herz fest ist, dann magst du untätig weilen beim Nicht-Handeln, und alle Dinge wandeln sich selber. Lass fahren deinen Leib; spei aus deine Sinneseindrücke; werde gleichgültig und vergiss die Außenwelt; komm in Übereinstimmung mit dem Uranfang; löse dein Herz; entlass deinen Geist; kehre zurück ins Unbewusste: dann kehren alle Wesen zurück zu ihrer Wurzel.“
Ziel dieser Richtung der chinesischen Philosophie, des Daoismus, war die Rückkehr zu „ursprünglichen“, „natürlichen“ Seinsweisen. Sie werden hier in mystifizierenden Formulierungen mit der Ausschaltung des Bewusstseins und der Rückkehr ins „Unbewusste“ gleichgesetzt. Auffallend sind die Parallelen zu altindischen Meditations- und Erleuchtungsgedanken. Wenn man das Extreme des Ausspruchs wegnimmt, so bleibt die Forderung, einfach zu werden und einen Zustand zu erreichen, in dem man instinktiv und ohne viel Nachdenken das „Richtige“ tut. Dann hat der Mensch gelernt, unmittelbar aus seiner Mitte heraus zu handeln und zu leben. Das war das Persönlichkeitsideal vieler Weisheitslehren, die das Ziel verfolgten, philosophisch-praktische Einsichten zu verinnerlichen und zu einem Teil der körperlich-seelischen Ganzheit zu machen. Das Wissen muss in „Fleisch und Blut“ übergehen, damit es auch gelebt wird.
Es gibt gewisse Gedanken, die stärker sind als wir.
Der Ausspruch stammt von dem griechischen Philosophen Philolaos von Kroton:
„ … Daher sind auch gewisse Vorstellungen und Leidenschaften nicht in unserer Gewalt und ebenso wenig (gewisse) Handlungen, die wir infolge solcher Vorstellungen und Gedanken begehen, sondern, wie Philolaos sagte, ‚es gibt gewisse Gedanken, die stärker sind als wir’.“
Hier dürfte das Unbewusste gemeint sein, denn wenn Vorstellungen und Gedanken bewusst sind, dann können wir sie auch ändern, krankhafte Zwangsvorstellungen/-gedanken vielleicht ausgenommen. Es war eine der Grundannahmen der Stoa, dass wir in dem Gebrauch unserer Vorstellungen und unseres Denkens frei sind. Das Wissen, dass es Unbewusstes gibt, und das Bestreben, dieses bewusst zu machen, um „Herr im eigenen Haus“ zu werden und das eigene Leben bewusst zu gestalten, ist schon in der sokratischen Forderung „Erkenne dich selbst!“ enthalten: Wir sollen in unserem Seelenleben jene Muster, Anlagen und Bestrebungen erkennen, die wir bisher nicht wahrgenommen haben. Zu dem Zitat bleibt zu bemerken, dass Philolaos ein Pythagoreer war. Die Pythagoreer lebten ursprünglich in einer griechischen Siedlung in Unteritalien (wo auch Kroton lag, heute Crotone) und bildeten eine philosophische Schule, der der Arzt Alkmaion zugerechnet wird. Dieser Alkmaion, der ebenfalls aus Kroton stammte, galt als bedeutender Kenner der Seele.
(Da morgen früh keine Möglichkeit besteht, die "Worte der Weisheit" zu verschicken, erfolgt die Versendung für Montag, den 27.11.2023, bereits heute.)
Leidvolle Spannungen entstehen durch unbewusste Eindrücke.
Das war die Meinung Patañjalis, dem Autor der Yogasutren, des grundlegenden Textes für alle Richtungen des Yoga:
„Die leidvollen Spannungen sind mithilfe der Gegenströmung („Schwimmen gegen die Strömung“) aufzugeben, da sie sehr subtil (unbewusst) sind. Aufgrund der Leiden, die durch die Veränderung, Bedrückung und die unbewussten Eindrücke entstehen, und weil die Bewegungen der Kräfte der Natur sich gegenseitig stören, erkennen die unterscheidenden Weisen, dass alles Leid ist.“
Auch die Antike in Orient und Okzident kannte das Unbewusste und dessen „subtilen“ Einfluss auf unser Denken, Wollen und Handeln, damit zugleich auf unser Wohlbefinden. Tiefgründig ist der letzte Satz des Zitats. Es sind die gegenläufigen Seelenkräfte in uns und die dadurch ausgelösten Spannungen, die uns das Leben bisweilen schwer und leidvoll machen. Patañjali stimmt mit Buddhas erster der „vier edlen Wahrheiten“ überein, wonach Leben leiden ist, vielfach verursacht durch unbewusste Denk-, Wollens- und Handlungsmuster. Unser alltägliches Leben wird mehr von diesen Mustern gelenkt als durch unsere Vernunft. Das „Schwimmen gegen die Strömung“ meint einen Übungsprozess, bei dem wir vorhandene schädliche Muster durch nährende und wohltuende Muster ersetzen.
Ich habe genug gelebt. Mein Hunger ist gestillt. Ich sehe dem Tode ruhig entgegen.
Der Ausspruch stammt aus einem Brief des römischen Philosophen Seneca und lautet im Zusammenhang:
„Wir müssen uns eher auf den Tod als auf das Leben vorbereiten. Das Leben erfordert keine sonderliche Fürsorge, aber wir haschen mit Begierde nach Mitteln für dasselbe. Es ist uns, als fehle uns etwas, und so wird es immer sein. Das Gefühl, genug gelebt zu haben, ist nicht eine Frucht der Jahre und Tage, sondern der Seelenverfassung. Ich, lieber Lucilius, habe genug gelebt. Mein Hunger ist gestillt. Ich sehe dem Tode ruhig entgegen.“
Wir können Seneca glauben, denn wie kaum ein anderer hat er alle Höhen und Tiefen menschlichen Daseins durchlebt. Aber er führt diese ruhige, erfüllte „Seelenverfassung“, die Selbstgenügsamkeit, nicht auf diese Erfahrungen zurück, sondern auf die Einsicht (Weisheit), zu der er durch lebenslange Studien und Übung gelangt ist. Das Zitat klingt pessimistischer als es gemeint ist. Seneca will sagen, dass der Weise nicht mehr von Begierden beherrscht wird, sondern mit sich und dem, was das Leben gibt, sein Genügen gefunden hat. Er mag Wünsche haben, aber sein Glück und Wohlbefinden, seine heitere Gelassenheit, seine innere Geborgenheit sind nicht von deren Erfüllung abhängig. Die innere „Vorbereitung auf den Tod“ hielt Seneca für das beste Mittel, das zu genießen, was das Leben ihm schenkt, solange er noch lebt.
(Wegen Probleme bei der Verbindung aus dem Ausland konnten die "Worte der Weisheit" heute erst verspätet verschickt werden.)
Der Weise begehrt nicht etwas, dessen Erreichen nicht in seiner Macht liegt.
Der Ausspruch stammt von dem chinesischen Philosophen Xunzi (Hsün Dse 3. Jh. v. Chr.). Der Gedanke findet sich auch in der stoischen Philosophie. Weisheit ist universal. Das Zitat lautet vollständig:
„Der edle Mensch führt gewissenhaft aus, was in seiner Macht steht. Und er neidet und begehrt nicht, was in der Macht des Himmels steht (Schicksal). Der Niedriggesinnte vernachlässigt, was in seiner Macht steht; aber er neidet und begehrt, was in der Macht des Himmels steht.“
Es trägt viel zu unserem Wohlbefinden bei, unsere auf Äußeres gerichteten Wünsche zu relativieren, indem wir uns sagen, dass unser Glück nicht von deren Erfüllung abhängt. Dieses hängt vielmehr davon ab, dass wir unser Seelenleben in Ordnung bringen, dass wir innere Werte wie Ausgeglichenheit, Authentizität, Unabhängigkeit, innere Ruhe, Mitgefühl, Zugewandtheit etc. stärken und umsetzen, unabhängig von den äußeren Ergebnissen unseres Handels. Dass wir unser Leben authentisch leben erfüllt uns und macht uns zufrieden. Xunzi zeigt hier eine große Näher zur stoischen Philosophie, die er aber gewiss nicht kannte. Die Stoiker empfahlen, zwischen dem zu unterscheiden, was in unserer Macht liegt und was nicht. Um Letzteres solle man sich nicht kümmern, sondern es der Vorsehung bzw. dem Schicksal überlassen.
Liebe Freunde/innen der Weisheit,
ich darf noch einmal an die
Nächste philosophische Matinee im Web:
erinnern. Sie findet am kommenden
Sonntag, den 26. November 2023, 10-12 Uhr, Thema: "Leidenschaft"
statt.
Die Zugangsdaten lauten:
Beitreten Zoom Meeting
https://us02web.zoom.us/j/84233884043?pwd=VHE5RmJ0NFliK09weUMxdUlDbmRSdz09
Meeting-ID: 842 3388 4043
Kenncode: 999106
Anstelle einer Teilnahmegebühr ist eine Spende willkommen. Da „Maß und Mitte“ ein gemeinnütziger Verein ist, kann die Spende steuerlich abgesetzt werden. Bei Spenden bis 300,- € reicht der Überweisungsbeleg zur steuerrechtlichen Anerkennung. Gleichwohl stellen wir auf Wunsch eine Spendenquittung aus. Das Spendenkonto lautet:
MASS UND MITTE
Münchner Bank eG
IBAN: DE58 7019 0000 0002 5719 35
BIC: GENODEF1M01
Eine Anmeldung nicht erforderlich. Es werden nicht mehr als 25 Teilnehmer zugelassen. Die Texte, die wir besprechen wollen, finden Sie im Anhang.
Herzliche Grüße
Ihr
Albert Kitzler
Denn die Begierde ist die Wurzel des Leidens.
Das ist eine der grundlegenden Einsichten Gautamas (Buddhas), die zu einem Eckfeiler der buddhistischen Philosophie wurde. Im Zusammenhang lautet das Zitat:
„Jegliches Leid, was entstanden ist und sich erhebt, hat allein im Begehren seine Wurzel und findet im Verlangen seine Begründung. Denn die Begierde ist die Wurzel des Leidens.“
Dass die Verfolgung und Befriedigung von Begierden ihren Preis hat, wurde im gesamten antiken Weisheitsdenken wahrgenommen. Die naheliegende, wenn auch nicht zwingende Schlussfolgerung, sich radikal von den Begierden abzuwenden, wurde jedoch vor allem im altindischen Denken und im Buddhismus gezogen. In den übrigen Weisheitstraditionen war man der Auffassung, dass es auf den richtigen Umgang mit den Begierden ankomme. Wer Maß und Mitte wahre, könne vielleicht kein vollkommen leidfreies, gleichwohl aber glückliches Leben führen.
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Man soll der Natur keine Gewalt antun, sondern sie überreden.
Der Ausspruch stammt von dem griechischen Philosophen Epikur. Es heißt weiter:
„Wir werden die notwendigen Begierden überreden, indem wir sie erfüllen, die bloß natürlichen, indem wir sie gewähren lassen, vorausgesetzt, dass sie nicht schaden, die schädlichen aber, indem wir sie scharf anfahren.“
Die hier vorgenommene Einteilung der Begierden (Triebe, Bedürfnisse) in (lebens-)notwendige, bloß natürliche (ihre Befriedigung ist nicht lebensnotwendig; sie können unschädliche oder schädliche Folgen haben) und schädliche (ihnen nachzugeben hat schädliche Folgen) wurde in der Folge viel diskutiert. Für eine gelingende Lebensführung ist es von entscheidender Bedeutung, das Wesen, die Wichtigkeit und die Folgen unserer Bedürfnisse/Begierden möglichst klar zu erkennen und unser Denken, Wollen, Handeln und Fühlen daran auszurichten, was uns nachhaltig guttut. Aber welche Begierden sich auch immer melden, sie sind ein Teil von uns. Wir sollen sie nicht wegleugnen oder verdrängen, sondern mit ihnen einsichts- und verständnisvoll umgehen, sie aber auch zügeln oder gänzlich zurückweisen, wenn wir erkennen, dass ihre Befriedigung mehr Leid als Freude bringt.
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Der Weise freut sich, wenn er mit sich selbst übereinstimmt, andere, wenn sich ihre Wünsche erfüllen.
So könnte folgende Stelle aus dem chinesischen „Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“ umschrieben werden:
„Der Edle freut sich, seinen Weg (Dao, Tao) zu erlangen; der Gemeine freut sich, seine Wünsche zu erlangen. Wenn man durch den Weg die Wünsche regelt, so herrscht Freude ohne Verwirrung. Wenn man über die Wünsche den Weg vergisst, so herrscht Unklarheit und keine Freude.“
Wichtiger als die Erfüllung der alltäglichen Wünsche und Begierden ist es, dass der Einzelne für sich den rechten Lebensweg (Dao, Tao) findet und beschreitet, wir würden heute sagen: authentisch lebt, seine Bestimmung und den Sinn seines Lebens findet. Dann kommt es nicht darauf an, ob sich auf Äußeres gerichtete Wünsche erfüllen oder nicht. Das übergeordnete Ziel, sein Leben selbstverantwortlich zu führen wie es dem eigenen Naturell und Wesen entspricht, ist erreicht. Man ordnet seine Wünsche diesem Ziel unter. Das führt zu nachhaltigem Glück und Zufriedenheit („Freude ohne Verwirrung“). Der umgekehrte Weg aber verfehlt das Glück und verliert sich in Ersatzbefriedigungen, weil man das, wonach man sich eigentlich sehnt, nämlich ein authentisches, glückliches, sinnerfülltes Leben zu führen, nicht findet.
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Ledig der Begierden Kette versenkt sich der Weise in den Weltgeist.
Das leicht umformulierte Zitat stammt aus der altindischen Bhagavadgita und lautet im Zusammenhang:
(der Gott
Krishna spricht zu dem Helden Arjuna)
„… Du musst
Frei von Dünkel, Hang, Betörung,
Ledig der Begierden Kette,
In den Weltgeist sich versenkend,
Weise gehn zur höchsten Stätte.“
Anders ausgedrückt: der Weise findet seine höchste Freude und Erfüllung darin („gehn zur höchsten Stätte“), genügsam, selbstbeherrscht, klar und bescheiden zu leben und zu meditieren. Dieses Meditieren, das Sich-Versenken in das Wesen der Welt und des Menschen, ist die altindische Art philosophischen Nachsinnens. Wie die Griechen so kommen auch die Inder zu dem Ergebnis, dass wir unser Glück vor allem darin suchen sollten, uns soweit es geht von den Begierden und Trieben unabhängig zu machen. Wir sollen lernen, mit ihnen auf die beste Weise umzugehen, d. h. sie zu zügeln, zu leiten und zu lenken, so dass sie uns nicht schaden und Leid zufügen. Dies ist aber leider oft der Fall. Um das zu vermeiden, müssen wir lernen, „Herr im eigenen Haus“ zu werden, d. h. autark, selbstmächtig und selbstgenügsam zu leben.
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An alle Begierde soll man die Frage stellen: Was wird mir geschehen, wenn erfüllt wird, was die Begierde sucht, und was, wenn es nicht erfüllt wird?
Das Zitat stammt von dem griechischen Philosophen Epikur. Nach schwerer Kindheit wurde er zu einem Meister der Lebenskunst. Er sprach sich für ein freudvolles Leben aus, aber so, dass die Freude von Dauer ist. Dies führte ihn paradoxerweise zu dem Schluss, dass der Mensch den meisten Begierden besser nicht folgen und eher ein bescheidenes, selbstgenügsames Leben führen solle. Das erhöhe die Lust und Freude am Leben. Zu diesem Ergebnis gelangte er durch eine lebensphilosophische, aufrichtige und gründliche Beantwortung der Frage, die eingangs zitiert wurde. Dabei ging er von der Natur des Menschen aus, deren stärkster Trieb es sei, soweit wie möglich Leiden zu meiden und Freude zu suchen. Die ungesteuerte Befriedigung vieler Begierden führe aber zu mehr Leid als Freude.
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Der Weise ist nicht gelehrt, der Gelehrte ist nicht weise.
Treffend fasst das Daodejing des Laotse, aus dem das Zitat stammt, das Wochenthema zusammen. An anderer Stelle heißt es dort:
„Kommen Klugheit und Wissen auf, so gibt es die großen Lügen.”
Kultur und Bildung sind ambivalent. Die Geschichte der Menschheit gibt dafür ein eindrückliches, aber immer wieder auch erschreckendes Beispiel und bestätigt es jeden Tag aufs Neue. Die kulturelle Entwicklung steht keineswegs immer für Fortschritt im friedlichen Zusammenleben der Menschen. Der Mensch sollte zwei Schulen durchlaufen: eine für die Allgemeinbildung und die Ausbildung seiner intellektuellen Fähigkeiten, eine andere für die Seele und die Ausbildung seiner persönlich-sozialen Kompetenzen. Unser Bildungssystem ist sehr stark auf den ersten Aspekt ausgerichtet, während der zweite vernachlässigt wird. Das ist eine bedauerliche Fehlentwicklung. Sie spiegelt ein mangelndes gesellschaftliches Bewusstsein für das wider, worauf es im Leben ankommt.
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Man kann gebildet sein und stets das Falsche tun, und ungebildet und stets das Richtige.
Das ist der Sinn des folgenden Ausspruchs, der von dem griechischen Philosophen Demokrit stammt:
„Viele Menschen haben nichts von Vernunftwahrheiten gelernt und leben trotzdem vernünftig; andere dagegen begehen die schändlichsten Handlungen und führen dabei die schönsten Vernunftwahrheiten im Munde.”
Bisweilen herrscht in der Wohnung eines Handwerkers mehr Weisheit als in dem Haus eines Professors, findet man auf dem Land weisere Menschen als in der Großstadt, trifft man bei Naturvölkern auf mehr gelebte Weisheit als in den hochentwickelten Industriestaaten. Der Stand der inneren Bildung eines Menschen entspricht keineswegs immer dem Stand der kulturellen Entwicklung der Gesellschaft, in der er lebt.
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Wahre Bildung zeigt sich weder am Wissen noch an der gesellschaftlichen Stellung, sondern am Charakter.
Ein Schüler des Konfuzius sagte:
„Wer auf Charakter, Tugend und Weisheit Wert legt, nicht aber auf Äußerlichkeiten, … von einem solchen Menschen sage ich, dass er Bildung hat …”
Das Problem hoch entwickelter Industrienationen einschließlich der unsrigen ist es, der Anhäufung von positivem Wissen und produktiven Fertigkeiten Vorrang einzuräumen vor der Ausbildung der persönlich-sozialen Kompetenzen eines Menschen. Das führt dazu, dass auf äußere Dinge, Verhältnisse, Güter und Symbole ein weitaus größerer Wert gelegt wird als auf den Menschen, seinen inneren Reichtum, seine Haltungen und seine Herzensbildung. Dadurch wird der Mensch in seinem natürlichen Bestreben nach einem glücklichen Leben eher behindert als unterstützt.
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Tiefe Einsicht ist nur der Weg zu einer weisen Lebensführung, nicht diese selbst.
In den Yogasutren des Pataňjali, einer grundlegenden Schrift zum Yoga, heißt es:
„Tiefe Einsicht kann nur Hindernisse beseitigen, die bestimmte Veränderungen blockieren. Ihre Rolle ist nicht mehr als die eines Gärtners, der einen Damm einreist, damit das Wasser im Feld dorthin strömen kann, wo es gebraucht wird.”
Wissen, Bildung, Kultur sind nur Hilfsmittel zu einem erfüllten, selbstbestimmten, authentischen Leben. Der Lebensvollzug selbst ist etwas anderes, nämlich die ständige Umsetzung der gewonnenen Einsichten im täglichen Leben. Intellektuelle Bildung und Kultur haben, ist eines, sie praktisch leben, d. h. sie konsequent in seinem Wollen, Handeln, Sprechen und Fühlen umsetzen, etwas anderes. Wir müssen unsere Vernunft gebrauchen, um den Weg zu erkennen und zu bahnen. Dann jedoch müssen wir ihn konsequent gehen. Das ist wahre Bildung, nämlich Herzensbildung. Viele Menschen haben mehr Schwierigkeiten mit dieser Herzensbildung als mit dem verstandesmäßigen Erfassen der Grundsätze für ein gelingendes Leben. Sie leben nicht so, wie es ihre Vernunft, ihr Gewissen und ihre tiefsten Bedürfnisse es von ihnen verlangen. Innerer Zwiespalt und seelisches Leiden sind die Folgen.
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Eine weise Lebensführung ist nicht das Ergebnis von vielem Lesen, sondern von vielem Lernen.
Bei Platon erzählt Sokrates eine hübsche Sage zum Unterschied zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort. Im alten Ägypten hätte der Gott der Weisheit dem seinerzeitigen König viele Erfindungen vorgestellt, unter anderem auch die Schrift. Aber gerade diese Erfindung kritisierte der König. Sie fördere die Vergesslichkeit, weil man sich nach dem Aufschreiben nicht mehr der Mühe unterziehe, das Geschriebene im Gedächtnis aufzubewahren.
„Und von Weisheit”, fuhr der König fort, „gibst du deinen Lehrlingen (nur) einen Schein, nicht die Wahrheit: wenn Sie vieles gehört haben ohne Belehrung, werden sie auch viel zu verstehen sich einbilden, da sie doch größtenteils nichts verstehen und schwer zu ertragen sind im Umgang, zu eingebildeten Weisen geworden und nicht zu wirklichen.”
Es komme nicht darauf an, was man verschlinge, sondern was man verdaue, sagte ein griechischer Arzt der Antike.
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Weise ist, wer seine natürlichen Bedürfnisse mit seiner Bildung in Übereinstimmung bringt.
So könnte das folgende Zitat des Konfuzius zusammengefasst werden:
„Ist ein Mensch mehr natürlich als gebildet, dann ist er unkultiviert. Unterdrückt die Bildung eines Menschen seine Natur, dann ist er eine Schreiberseele. Erst wenn Bildung und Natur ausgeglichen sind, ist man ein Weiser.”
Mit „Schreiberseele” dürfte jemand gemeint sein, der viel gelesen und studiert hat, darüber aber das einfache Menschsein vernachlässigt hat. Er ist eher verbildet als gebildet. Viele Menschen haben ein großes Allgemein- oder Expertenwissen, während sie einfachste Regeln des guten und gelingenden Lebens entweder nicht kennen oder nicht praktizieren. Unser Bildungssystem, in dem die praktische Lebensschulung keinen Platz hat, hat leider nie versucht, diese Lücke zu schließen. Dabei war es die Grundidee der humanistischen Bildung, die am Anfang der Renaissance von Petrarca, Salutati und anderen ins Leben gerufen wurde, die Persönlichkeit zu entwickeln und erst an zweiter Stelle positives Wissen zu vermitteln.
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Nach all dem Schnitzen und all dem Gestalten
Muss man sich wieder zur Einfachheit halten.
Der Ausspruch stammt von dem chinesischen Philosophen Zhuangzi. Er drückt eine tiefe Einsicht antiken Weisheitsdenkens aus, die wir gleichermaßen in der östlichen wie der westlichen Hemisphäre finden. Sie weist auf die Gefahren jeglicher Erziehung, Bildung und Kultur hin. Die Entwicklung der Persönlichkeit darf nicht dazu führen, dass der Mensch von seinen natürlichen Wurzeln entfremdet wird. Bei aller Bildung und Gelehrtheit soll der Einzelne seine Natürlichkeit bewahren und Mensch bleiben wahren. Die Natürlichkeit ist im gleichen Maß zu pflegen wie die Bildung. Wir mögen zu noch so tiefen Einsichten gelangen, zu noch so hohen Entwicklungsstufen heranreifen – wir sollten darüber nicht eine natürliche Einfachheit verlieren.
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Bleibe nüchtern und vergiss nie zu misstrauen, das
sind die Sehnen der Seele.
„Vergiss nie zu misstrauen“ meint,
dass wir uns durch nichts blenden und betören lassen sollen. Der Ausspruch
stammt von dem griechischen Dichter Epicharm,
der Berühmtheit erlangte durch seine weisen Sinnsprüche. Die Besonnenheit, von
der hier die Rede sein dürfte, d.h. das nüchterne, vorsichtige, angemessene Verstehen
und Verhalten, wird hier verstanden als die „Sehne der Seele“. Wörtlich übersetzt steht hier „Glieder/Arme des Geistes/der Einsicht“.
Besonnenheit in diesem Sinne ist mithin das kritische Werkzeug der Vernunft.
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Hör auf mit dem Streit und zücke das Schwert nicht!
Der Altphilologe Bruno Snell (1896-1986) schreibt: „Die erste Mahnung zur Tugend in der griechischen Literatur steht im ersten Buch der Illias (Homer, etwa 8. Jh. v. Chr.) ... : Als Achill zornig dem Agamemnon mit dem Schwert zu Leibe gehen will, hält (die Göttin) Athena ihn zurück und meint (Vers 207): ‚Ich komme vom Himmel, um deinen ménos (ménos, d.h. deinem leidenschaftlichen Drang, deiner erregten Bewegung) ein Ende zu machen, wenn du mir folgst ... Hör auf mit dem Streit und zücke das Schwert nicht!’ Schon in der Antike hat man dies als Mahnung zur Besonnenheit aufgefasst ...“ Athena weiter:
„ ... Denn ich sage dir an, und das wird wahrlich
vollendet:
Einst wird dir noch dreimal so herrliche Gabe
geboten
Wegen der heutigen Schmach. Drum fasse dich nun und
gehorch uns.“
Man fährt besser mit der Besonnenheit. Kurz darauf antwortet Achill:
„Euer Wort, o Göttin, geziemet es wohl zu
bewahren,
Welche Wut auch im Herzen sich hebt; denn solches
ist besser.“
Athena ist die Göttin der Weisheit. Homer sagt mithin: Der Weisheit zu folgen statt dem Affekt bringt am Ende größeren Gewinn. Wir können erahnen, warum die alten Griechen in Homers Epen ein „Handbuch der Lebensweisheit“ gesehen haben und ständig aus ihm zitierten.
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Alarmruf. Abends und nachts Waffen. Fürchte nichts.
Das Zitat stammt aus dem „Buch der Wandlungen“ (Yijing, I Ging), dem ältesten Weisheitsbuch der Chinesen und vielleicht der Menschheit überhaupt. Der Übersetzer Richard Wilhelm erläutert den Ausspruch:
„Bereit sein ist alles. Entschlossenheit ist mit Vorsicht untrennbar verbunden. Wenn man sorgfältig und besonnen ist, so braucht man nicht zu erschrecken und aufgeregt zu werden. Wenn man allezeit wachsam (achtsam) ist, solange noch keine Gefahr da ist, so ist man gewappnet, wenn die Gefahr naht, und braucht sich nicht zu fürchten. Der Edle (Weise) ist auf der Hut vor dem, was noch nicht zu sehen ist, und besorgt vor dem, was noch nicht zu hören ist; darum weilt er inmitten der Schwierigkeiten, als wären es keine Schwierigkeiten. Wenn man seinen Charakter ausbildet, so fügen sich einem die Menschen von selbst. Siegt die Vernunft, so ziehen sich die Leidenschaften von selbst zurück. Besonnen sein und nicht die Rüstung vergessen, das ist der rechte Weg zur Sicherheit.“
Das ist ein starkes Plädoyer für Besonnenheit und Achtsamkeit. Andererseits kann kein belastendendes Besorgtsein gemeint sein. Der Satz „inmitten der Schwierigkeiten weilen, als wären es keine“ deutet vielmehr auf Gelassenheit und innere Ruhe hin. „Leidenschaften“ ist hier – wie bei allen antiken Texten – negativ zu verstehen als eine übermäßige Begierde, die Abhängigkeit und Leiden schafft. Statt „der rechte Weg zur Sicherheit“ könnte man auch sagen: der rechte Weg zu einem angstfreien Leben. Wer aber die Angst überwunden hat, der hat nach Meinung der Alten einen sehr großen Schritt zu einem glücklichen Leben gemacht.
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Stets Vorsicht üben können ist die Wurzel jeden
Glückes.
Das Zitat
hat uns Konfuzius übermittelt. Es stand
auf der Rückseite einer goldenen Statue geschrieben, deren Mund mit drei Nadeln
verschlossen war. Besonnenheit bedeutet auch, stets bewusst, vorsichtig, präsent
und wachsam zu leben, Gefährdungen und Störungen eines guten Lebensflusses früh
zu erkennen, vorherzusehen und sich gegen sie zu wappnen. Was hier mit „Vorsicht“ übersetzt wird, dürfte der
buddhistischen „Achtsamkeit“
nahekommen. Sie ist eine wichtige Quelle eines glücklichen Lebens.
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Die Klugheit versorgt uns mit allem, die Besonnenheit rüstet uns gegen alles.
Der Ausspruch stammt von dem griechischen Philosophen Bion von Borysthenes. Die Besonnenheit, die griechische Tugend der von Einsicht getragenen Mäßigung, wird hier als ein Schutzschild gegen die Anfeindungen des Lebens dargestellt. Viele Probleme unseres Lebens, wie etwa Überforderung, Angst, Sorgen, Ärger, ja alle Gefühle und Affekte beginnen besonders dann unser Wohlbefinden negativ zu beeinträchtigen und unsere Gesundheit zu gefährden, wenn sie ein gewisses Maß überschreiten und über längere Zeit andauern. Deshalb sah die antike praktische Philosophie eine ihrer zentralen Aufgaben darin, Wege aufzuzeigen, wie solche Gefühle entweder ganz überwunden werden oder doch auf ein erträgliches Maß reduziert werden können.
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Erst wenn man Besonnenheit besitzt, vermag man Ruhe zu finden.
Ein berühmter Abschnitt im chinesischen „Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“ (Liji) heißt ‚Das große Lernen’ oder ‚Die große Wissenschaft’ (Da Xue). Eine Passage daraus lautet:
„Erst wenn man weiß, wo haltzumachen ist, gewinnt man Zielbestimmtheit; erst wenn man Zielbestimmtheit besitzt, vermag man Besonnenheit zu finden, erst wenn man Besonnenheit besitzt, vermag man Ruhe zu finden; erst wer Ruhe gefunden hat, vermag klar zu denken; erst wer klar zu denken vermag, kann sein Ziel erreichen.“
„Besonnenheit“ wird hier zu einer inneren Haltung, die wir gewinnen, wenn wir den „rechten Weg“ (Dao, Tao) gefunden haben und unserem Wollen und Handeln ein Ziel und eine Grenze gesetzt haben („Zielbestimmtheit“). Dann erlangen wir innere Ruhe, Gelassenheit und Klarheit im Denken. „Zielbestimmtheit“ deutet wie das Wort „Besonnenheit“ auf das „rechte Maß“. Sinnentsprechend heißt es bei dem griechischen Dichter Pindar: „Dem Glück ein Maß zu setzen tut not.“
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Sorge für deine Gesundheit und halte Maß im Trinken, Essen und Sport.
Treffend interpretiert der Altphilologe Bruno Snell (1896-1986) einschlägige Texte aus der griechischen Antike über die Weisheit der Besonnenheit, des Maßhaltens:
„ … in den sogenannten Goldenen Sprüchen des Pythagoras steht (…): ‚Sorge für deine Gesundheit und halte Maß im Trinken, Essen und Sport’, und bei Theognis (früher gr. Dichter): ‚Man soll die Mitte zwischen Durst und Trunkenheit halten’, - oder Euryximachos in Platons Symposion (…) doziert: ‚Man soll alle Lust nur mäßig wecken, damit man nicht in Krankheit gerät’... ‚Gesundheit ist das Beste’, singt ein altes attisches Trinklied (…). Gesundheit ist das ‚dauernde’ Glück, ein bescheidenes vielleicht, aber, eben weil es die größte Dauer für das Leben gewährleistet, das höchste. Die Vorstellungen vom Maß und von der goldenen Mitte entstammen solchen Gesundheitsregeln, und das Bild der Gesundheit weist schon in früher Zeit auch dem geistigen Streben des Menschen seine Schranken: Das Besonnensein bezeichnen die Griechen mit ‚Gesund-Denken’ (sophronein)…“. Die Besonnenheit (sophronsyne) „ist das Wissen, das die Gesundheit, das Wohlergehen und damit das Glück reguliert, ein Verständnis also für die organische Natur, das sich ins Praktische wendet …“
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Wer die Welt nicht versteht, wird sich von Ängsten nicht befreien können.
So könnte der Sinn folgender Passage bei dem griechischen Philosophen Epikur verstanden werden:
„Es ist nicht möglich, sich von der Furcht hinsichtlich der wichtigsten Dinge zu befreien, wenn man nicht begriffen hat, welches die Natur des Alls ist … Es ist also nicht möglich, ohne Naturwissenschaft ungetrübte Lustempfindungen zu erlangen.“
Epikur hat vor allem Naturereignisse im Auge, die den Menschen Angst bereiten. Das war natürlich früher mehr der Fall als heute. Was hier von der Kenntnis der natürlichen und kosmischen Gesetze gesagt wird, kann auf die Kenntnis der menschlichen und weltlichen Dinge übertragen werden. Wissen und Weisheit beseitigen Ängste. Wenn wir beispielsweise wissen, wie unbeständig das Schicksal ist, dass das Leben ein ständiges Kommen und Gehen, ein Nehmen und Geben ist, dann fürchten wir uns nicht oder doch weniger vor Verlusten und Schicksalsschlägen. Häufig gleicht dasselbe Schicksal den Verlust durch ein unerwartetes Geschenk oder Glück wieder aus.
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Hat man sein Wesen erkannt, so kennt man die Welt.
So könnte folgendes Zitat des chinesischen Philosophen Menzius umschrieben werden:
„Wer sein Herz zu voller Entfaltung bringt, erkennt sein Wesen; hat man sein Wesen erkannt, so kennt man den Himmel. Damit aber dient man dem Himmel, dass man sein Herz wahrt und sein Wesen hegt.“
Unter „Himmel“ versteht man im Altchinesischen üblicherweise die Natur, die Bestimmung, das Schicksal, also insbesondere all das, was von innen und außen unseren „rechten Weg“ (Dao/Tao) bestimmt. So entspricht „Himmelserkenntnis“ weitgehend der „Welterkenntnis“. Menzius fordert den Menschen auf, „sein Herz zu wahren“, mithin entsprechend seinem Wesen zu leben („zu voller Entfaltung bringen“), also authentisch und wahrhaftig. Dann dienen wir uns selbst, der Welt und den anderen.
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Der Weise kennt die Welt.
Diese Auffassung kann man in dem folgenden Ausspruch Buddhas wiederfinden:
„Ebenso wahrlich geschieht es auch, wenn ein Vollendeter in der Welt erscheint, ein Heiliger, völlig Erwachter, der, mit Wissensmacht begabt und rechtem Tun, auf gutem Wege geht, ein Weltenkenner, der unvergleichliche Lenker von dem, was im Menschen gezähmt werden muss, der Lehrer von Göttern und Menschen, der Bruder, der Erhabene.“
Der „Weise“ ist nicht identisch mit dem „Vollendeten“, von dem Buddha hier spricht. Wie die Chinesen dürfte auch Buddha einen Unterschied zwischen dem „Weisen“ und dem „Heiligen“ („Vollendeten“) gemacht haben. Aber im Hinblick auf die wesentlichen Dinge ist der Unterschied nur ein gradueller. „Weltenkenner“ und „unvergleichliche Lenker“ ihres Seelenlebens sind sie beide. Welterkenntnis hat sehr viel damit zu tun, dass man das menschliche Seelenleben versteht, insbesondere das eigene. Daraus erwächst die Fähigkeit, diejenigen seelischen Kräfte und Triebe zu zähmen, aufgrund deren der Mensch sich immer wieder selbst schädigt. Zu dem Ausspruch Buddhas vergleiche man die Stelle aus den Upanishaden: „Wer sein Selbst kennt, der kennt die Welt.“
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Erkenne aus dem Studium der Vergangenheit den Rhythmus des Lebens.
Das ist der Sinn des folgenden Ausspruchs des Philosophenkaisers Mark Aurel, der damit das Gleiche meint wie der chinesische Philosoph Zhuangzi im gestrigen Zitat:
„Das Vergangene vor seinen Augen vorüberziehen lassen und die zahllosen Wandlungen der Königshäuser. Man kann auch das Künftige voraussehen. Denn es wird in jeder Hinsicht den gleichen Charakter haben und nicht aus dem Rhythmus des jetzigen Laufes herausspringen können.“
Das Studium der Geschichte, insbesondere der Kulturgeschichte, ist deshalb interessant, weil es hilft, die Gegenwart zu verstehen und die zukünftige Entwicklung bis zu einem gewissen Grade vorhersehbar zu machen. Die Geschichte belehrt uns über Gesetzlichkeiten in der Natur, im Verhalten der Menschen und im Weltgeschehen. „Nichts Neues unter der Sonne“, heißt es bei Kohelet in der Bibel. Nietzsche sprach von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Was wir verstehen, mit dem können wir umgehen.
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Wer daher höchste Weisheit besitzt, der überschaut das Ferne und das Nahe.
So kann folgender Ausspruch des chinesischen Philosophen Zhuangzi zusammengefasst werden:
„Wer daher höchste Weisheit besitzt, der überschaut in der gleichen Weise das Ferne und das Nahe … Er durchdringt mit seinem Blick Vergangenheit und Gegenwart, so dass er sich nicht freut, wenn er gewinnt, noch trauert, wenn er verliert; denn er erkennt, dass es keine dauernden Zustände gibt …“
Mit das „Ferne und Nahe“ sind alle weltlichen Dinge und Geschehnisse gemeint. Interessant und typisch für das traditionell geprägte Denken der Chinesen ist die besondere Erwähnung der geschichtlichen Erfahrung als wichtiger Teil der „Welterkenntnis“. Wer die Vergangenheit kennt, versteht die Gegenwart. „Sich nicht freut, wenn er gewinnt, noch trauert, wenn er verliert“ dürfte eine Zuspitzung sein. Gemeint ist, dass der Weise weder übermäßig jubelt noch trauert, wenn etwas gelingt oder nicht. Angesichts des wechselnden Schicksals und des Umstands, dass Gewinn und Verlust häufig vom Zufall abhängen, bleibt er ruhig und gelassen. Mit Gleichmut und Dankbarkeit nimmt er entgegen, was das Schicksal schenkt, und lässt ohne Groll fahren, was es wieder nimmt.
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Erfasse den ganzen Kosmos und du befreist dich von vielen Sorgen.
Das ist der Sinn folgender Stelle bei dem römischen Kaiser und Philosophen Mark Aurel:
„Du kannst dich von vielen unnötigen Dingen, die dich quälen, befreien; denn sie existieren bloß in deiner Einbildung. Und du wirst dir sicher ein weites Feld schaffen, wenn du den ganzen Kosmos mit deinem Geist umfasst und das Wesen der Ewigkeit bedenkst und über die rasche Wandlung der einzelnen Teile eines Dinges nachdenkst …“
Für den „ganzen Kosmos“ kann man auch „Welt“ als der Inbegriff aller menschlichen, göttlichen und natürlichen Dinge setzen. Sich loslösen von dem Gedanken an Einzelnes und versuchen, das Ganze zu überblicken, ist Philosophie und Teil weiser Lebensführung. Das Einzelne verliert nicht an Bedeutung, wenn man das Ganze in den Blick nimmt, wohl aber an der Fähigkeit, den Menschen in unnütze Aufregung zu versetzen.
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Wer die Gesetze der Natur kennt, klagt nicht mehr über die Natur.
Der Ausspruch stammt von dem chinesischen Philosophen Xunzi und lautet vollständig:
„Wer sich selbst kennt, klagt nicht mehr über seine Mitmenschen. Wer die Gesetze der Natur kennt, klagt nicht mehr über die Natur. Denn wer über seine Mitmenschen klagt, hat selbst beklagenswert versagt, und wer über die Natur klagt, zeigt damit lediglich, dass er nicht den Willen besitzt, sie zu meistern.“
Das antike Weisheitsdenken in West und Ost war übereinstimmend der Auffassung, dass zu einer weisen Lebensführung neben der Selbsterkenntnis auch Welterkenntnis gehört („Gesetze der Natur“). Je besser wir die Welt verstehen, umso besser können wir mit ihr umgehen. Wir können Schicksalsschläge, negative Ereignisse und Zustände leichter ertragen, wenn wir erkennen, dass sie sich ständig wiederholen, scheinbar unvermeidbar sind und offenbar zum Leben in der Welt gehören. Das bedeutet keineswegs, sich nicht für eine Verbesserung konkreter Umstände einzusetzen, sondern nur, dass Unvermeidbare, d. h. das, was nicht in unserer Macht steht, gelassener zu ertragen.
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