- PHILOSOPHIE TO GO -
DIE TÄGLICHEN
“WORTE DER WEISHEIT”
Das Endziel ist die Seelenheiterkeit.
So beginnt der folgende Text des Diogenes Laertios, einem antiken Philosophiehistoriker, über den griechischen Philosophen Demokrit:
„Endziel (des Menschen) ist die Seelenheiterkeit, die keineswegs zusammenfällt mit der Lust, wie einige missverständlich es auffassten, sondern ein Zustand, in welchem die Seele ein friedliches und gleichmäßiges Dasein führt, von keiner Furcht, von keinem Aberglauben oder sonst welcher Störung aus dem Gleichgewicht gebracht. Er nennt das auch Wohlbefinden … und hat noch viele andere Namen dafür.“
Das Wort „Seelenheiterkeit“ übersetzt das griechische Wort „euthymia“, das auch Wohlgemutheit, Frohsinn, Freude und gute Laune bedeutet. Wie nachhaltiges Glück ist auch die „Seelenheiterkeit“ von purer Lust und Vergnügen zu unterscheiden. Sie ist nicht ein vorübergehendes Gefühl, sondern eine Grundgestimmtheit der Seele. Während Lust und Vergnügen wie Frust und Ärger kommen und gehen, ist die Heiterkeit der Seele etwas Bleibendes, das wir dauerhaft empfinden, wenn unsere Gefühle keine größeren Ausschläge nach oben oder unten zeigen. Das wird nur dann der Fall sein, wenn es uns gelingt, ein gutes oder weises Leben zu führen.
Weisheit führt zu stiller Heiterkeit.
Das ist der Sinn folgender Stelle aus der indischen Bhagavadgita:
“Wer Selbstsucht, Wollust, Dünkel, Zorn,
Und Prahlsucht völlig abgestreift,
Gelassen, ohne Habe ist,
Der ist zur Göttlichkeit gereift.
Zum Brahm geworden, heiter, still,
Erlöst von Kummer und von Gier,
Und allen Wesen gleichgesinnt,
Hegt höchste Liebe er zu mir.”
Mit „Brahm“ ist das unpersönlich Göttliche gemeint, der Weltgeist. Im Text ist zwar nicht von Weisheit die Rede, sondern von dem Weg der Erleuchtung. Aber wie Religion und Philosophie im altindischen Denken eng miteinander verflochten sind, so kann der Weg zu Gott und Erleuchtung auch als der Weg zur Weisheit beschrieben werden und umgekehrt. Der Gedanke ist, dass wir durch Selbstkultivierung, d.h. durch den kontinuierlichen Abbau von fehlerhaften Vorstellungen, Werten und Verhaltensweisen, durch Selbstgenügsamkeit und Verzicht einen Seelenzustand nachhaltiger heiterer Gelassenheit erlangen.
Liebe Freunde/innen der Weisheit,
in unserem Philosophie-Podcast „Der Pudel und der Kern“ ist eine weitere Folge #51 zu hören. Es geht um "Selbstsorge", d.h. um das Kümmern um sich selbst, mit dem man sich von leidvollen Denk- und Verhaltensweisen befreit und mehr Freude am Leben gewinnt.
Seneca
Den kostenfreien Podcast und die wichtigsten Informationen dazu finden Sie auf der Website: www.pudel-kern.com
Ferner auf diversen Plattformen wie:
Spotify: https://open.spotify.com/episode/0vLujbDyfGiGCCFn1W1VIz
Wenn Ihnen der Podcast gefällt, empfehlen Sie ihn weiter. Über Anmerkungen
und Rückfragen freuen wir uns.
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Wochenendseminar in der Schweiz (Lasalle-Haus)
Für die Freunde/innen der Weisheit aus der Schweiz und der näheren Umgebung habe ich in diesem Jahr erstmals ein Wochenendseminar in der Schweiz geplant. Allerdings ist die Mindestzahl von 7 Teilnehmer/innen bis jetzt noch nicht erreicht. Sollte dies nicht bis zum 18. Juni 2023 gelingen, müsste ich das Seminar leider absagen. Es geht um Lü-Buwei, einem Klassiker der chinesischen Weisheitslehre, bei dem wir alles lernen können, was wir für ein gelingendes Leben brauchen.
22.-24. September 2023, Lasalle-Haus, Bad Schönbrunn, Schweiz
Thema: "Lü Buwei
– Höhepunkte der chinesischen Philosophie"
Lebensweisheiten für den
Alltag
Dauer: Freitag, 18:00 h bis Sonntag, 14:00 h
Leitung:
Dr. Albert Kitzler
Seminarort: Bad Schönbrunn, Schönbrunn 3, 6313 Edlibach,
Schweiz
Unterkunft/Verpflegung/Seminargebühr: 722,-
€
Zum Seminarhaus: www.lassalle-haus.org/de/
Anmeldung: E-Mail an massundmitte@gmx.de
Anmeldeschluss: 18. Juni 2023!
Herzliche Grüße
Ihr
Albert Kitzler
Das verdanken wir der Philosophie: sie macht uns heiter.
Der Ausspruch stammt von Seneca und lautet im Zusammenhang:
„Das verdankt er (gemeint ist ein Freund Senecas) der Philosophie: sie macht ihre Jünger heiter auch angesichts des Todes ... Es handelt sich hier um nichts Geringes … (nämlich) um eine Sache, die lange gelernt sein will: gefassten Mutes zu scheiden, wenn die unvermeidliche Stunde sich einstellt. ... Ich weiß, dies ist schon oft gesagt worden und verdient noch oft gesagt zu werden.“
Seneca hatte die von zahlreichen antiken Philosophen vertretene Vorstellung, dass insbesondere die Überwindung der Angst vor dem Tod Glück, Heiterkeit und Gelassenheit eines Menschen fördert. Mit Epikur empfahl er daher, „sich im Sterben zu üben“. Schon Platon hatte die Philosophie als eine „Übung im Sterben“ bezeichnet. Sie lehrt, mit der unausweichlichen und allgegenwärtigen Vergänglichkeit umzugehen. Wer das versteht, tauscht seine Ängste und Sorgen ein gegen heitere Gelassenheit.
Aus weisen Gewohnheiten erwächst die Freude am Leben.
Das ist der Sinn einer Stelle im chinesischen „Buch der Riten, Sitten und Gewohnheiten“ (Liji):
„Wenn die Sitten ihre Rückwirkung finden, so entsteht Freude; und wenn die Musik ihrer Konzentration wirkt, so entsteht Ruhe. Die Rückwirkung der Sitten und die Konzentration der Musik sind ihrem Sinne nach dasselbe. Musik bedeutet Freude; das ist etwas, ohne dass die Gefühle des Menschen nicht sein können.“
Zwar heißt es in der Übersetzung „Sitten“ statt „weisen Gewohnheiten“. „Sitte“ bedeutet hier aber nichts anderes als „gute Gewohnheit“ oder „weise Lebenspraxis“. Mit „Rückwirkung“ ist die Wirkung und Resonanz bei anderen und in uns selbst gemeint, die ein äußerliches Verhalten (Sitte, Gewohnheit) hat. Mit anderen Worten: Sammlung sowie eine weise Lebensführung und Selbstkultivierung schaffen Freude, Glück.
Man muss gleichzeitig lachen und philosophieren und sein Haus verwalten und alles Übrige tun, was einem vertraut ist, und niemals aufhören, die Worte der wahren Philosophie hören zu lassen.
Das sagt der griechische Philosoph Epikur. Praktisches Philosophieren ist regelmäßiges Nachdenken über die wichtigen Fragen des Lebens und konsequentes Umsetzen der dabei gewonnenen Einsichten im täglichen Leben. Ziel dieser Übung ist es, dass man im Rahmen der gegebenen Umstände so lebt, wie man leben möchte und wie man es für sich als gut erkannt hat. Dabei macht man nichts Besonderes, aber was man tut, das tut man aus einer inneren Stimmigkeit heraus. Diese innere Stimmigkeit und die durch die Philosophie gewonnenen Einsichten führen dazu, dass man in einer Grundstimmung heiterer Gelassenheit lebt, die nicht nachhaltig erschüttert werden kann.
Wenn die Gegensätze (Yin und Yang) sich harmonisch vereinigen, entstehen die Dinge.
Eine Beschreibung des Zusammenwirkens von Yin und Yang findet sich bei dem chinesischen Philosophen Zhuangzi:
„Das dunkle Prinzip in seiner höchsten Wirkung ist ernst und still; das lichte Prinzip in seiner Vollendung ist mächtig und wirksam. Das Ernste und Stille geht aus dem Himmel hervor; das Mächtige und Wirksame entwickelt sich aus der Erde. Wenn die beiden sich vereinigen und Harmonie wirken, so entstehen die Dinge. Es ist noch eine geheime Kraft, die diese Tätigkeiten ordnet (Dao, Tao); aber man sieht nicht ihre Gestalt. Der Wechsel von Zurückebben und Ausatmen, von Fülle und Leere, von Dunkel und Licht, der Wandel der Sonne und die Änderungen des Mondes: das alles findet fortwährend statt, aber man kann nicht sehen, wie es zu Stande kommt …“.
Die alten Chinesen versuchten, ihr Leben zu verstehen, indem sie die in der Natur wirkenden Kräfte und Gesetzmäßigkeiten auf sich und ihr Seelenleben übertrugen. Dabei sind sie weit vorgedrungen und haben eine faszinierende Seelen- und Weisheitslehre entwickelt. Ein Kern dieser Lehre war die Erkenntnis, dass im Leben polare Gegensätze am Werk sind und alles darauf ankommt, sie in ihrer zeitlichen Entwicklung immer wieder harmonisch auszugleichen. Das Streben des Menschen nach solcher Harmonie im Umgang mit sich selbst, den anderen und der Welt war ihnen der „rechte Weg“ (Dao/Tao).
Alles entsteht auf dem Wege des Streites.
Das war eine zentrale These des griechischen Philosophen Heraklit:
„Das Entgegengesetzte paßt zusammen, aus dem Verschiedenen ergibt sich die schönste Harmonie, und alles entsteht auf dem Wege des Streites.“
Noch schärfer formuliert er es in dem berühmten Ausspruch:
„Der Krieg (Kampf) ist der Vater aller Dinge.“
Für eine weise Lebensführung bedeutet dies, dass der Mensch lernen sollte, die Gegensätze in der Welt und ihre Notwendigkeit und Unausweichlichkeit zu verstehen und, wo er ein Übel nicht ändern kann, es auch bereitwillig und duldsam anzunehmen. Denn durch die Dynamik antagonistischer Kräfte – so Heraklit – entsteht und erhält sich das Leben. Kampf ist Auseinander-Setzung, ist Zellteilung und ein Teil der Lebendigkeit. Das bedeutet nicht, dass wir nicht gegen Unrecht und Missstände ankämpfen sollten. Aber wir werden dabei umso erfolgreicher sein, je mehr wir die Welt mit philosophischem Blick als das nehmen, was sie ist, uns keiner Illusion hingeben und mit Ruhe und Gelassenheit den Streit in der Welt, wo wir ihn nicht befrieden können, als „kosmisches Geschehen“ hinnehmen, ohne daran zu verzweifeln.
Glück entsteht aus Unglück, Unglück aus Glück.
Das ist die Aussage der folgenden Stelle aus dem altchinesischen „Buch der geheimen Ergänzungen“:
„Das Leben ist Wurzel des Todes,
Der Tod ist die Wurzel des Lebens;
Segen entsteht im Unheil,
Unheil entsteht im Segen.“
Aus dieser Erkenntnis heraus haben die Weisen der Antike in Orient und Okzident die Maxime aufgestellt, im Unglück nicht zu verzagen und im Glück nicht übermütig zu werden, denn beides wird vergehen und ins Gegenteil umschlagen. Das ist der Gang der Dinge, die Dialektik der Gegensätze, das Bewegungsgesetz von Yin und Yang, von „Systole und Diastole“ (Zusammenziehung und Ausdehnung). Es ist viel für unser Wohlbefinden und unsere Gelassenheit gewonnen, wenn wir diese „ewige Formel des Lebens“ (Goethe) akzeptieren können. Das ist dann kein Fatalismus, wenn wir uns zugleich bemühen, Unglück zu vermeiden, und wenn es eintritt, „in Glück zu verwandeln“ (Konfuzius).
Die Gegensätze sind der Ursprung der Dinge.
Das Zitat stammt von dem griechischen Arzt und Naturphilosophen Alkmaion von Kroton (6. Jh. v. Chr.) und lautet im Zusammenhang:
„Er (Alkmaion) behauptet nämlich, dass die Vielheit der menschlichen Dinge im Grunde auf zwei hinauskomme; … von diesen beiden (von Alkmaion und den Pythagoreern, eine philosophische Schule, der er zuzurechnen ist) kann man also soviel entnehmen, dass die Gegensätze die Prinzipien der Dinge sind.“
Aus den Gegensätzen entsteht alles. Polarität bestimmt das innere Wesen der Dinge wie ihr Verhältnis zueinander. Das gilt auch für den Menschen. Sein Streben nach Seelenruhe und innerer Ausgeglichenheit ist der Versuch, die inneren Gegensätze und Kräfte zu befrieden und die Spannungen gelassen auszuhalten zu können. Gänzlich aufheben – das war die herrschende Auffassung des antiken Weisheitsdenkens – wird er sie nicht. Vielfach wird das auch heute noch so gesehen. Karl Jaspers spricht von dem „Unstimmigen im Dasein“, Sigmund Freud von einem inneren Ungleichgewicht, das der Mensch ständig auszugleichen bestrebt ist. Die Gegensätze scheinen andererseits der Garant für die Lebendigkeit und der Dynamik des Existierens zu sein.
So gibt es seit undenklichen Zeiten Kampf, und er kann nicht einfach abgeschafft werden.
Das Zitat stammt von dem chinesischen Kaufmann und Philosophen Lü Buwei und lautet im Zusammenhang:
„Waffen sind ein Mittel zur Einschüchterung; dazu bedarf es der Gewalt. Dass das Volk Einschüchterung und Gewalt braucht, entspricht seinem Wesen. Sein Wesen aber erhielt es vom Himmel; es steht nicht in der Macht des Menschen, es zu schaffen … So gibt es also seit undenklichen Zeiten Kampf, und er kann nicht einfach verboten noch abgeschafft werden.“
Dass ein Volk mit Gewalt gezügelt werden muss, mag in dieser scharfen Zuspitzung befremdlich erscheinen. Wir brauchen aber nur an die vielen Polizisten, Sicherheitsbeamten und Soldaten zu denken, die in jedem Staat für Sicherheit und Ordnung unverzichtbar sind, um nachvollziehen zu können, wovon Lü Buwei spricht. Wäre die menschliche Natur so beschaffen, dass es jedem leichtfiele, sein Triebleben und seine Begierden einer weisen, wohltuenden und gemeinverträglichen Lebensweise unterzuordnen, bräuchten wir weder Sicherheitskräfte noch Weisheitsbücher. Aber in allen Menschen gibt es Spannungen und Gegensätze, die sich immer wieder in verbaler oder körperlicher Gewalt entladen können, weil sie oft nicht beherrscht werden.
Wenn es keine hohen und tiefen Töne gibt, dann gibt es auch keine Harmonie.
Das ist der Sinn folgender Stelle bei dem frühen griechischen Philosophen Heraklit:
„Mit Unrecht sagt Homer: ‚Möchte doch schwinden der Streit aus der Welt der Götter und Menschen!’ Dann ginge ja alles zugrunde. Denn es gibt keine Harmonie, wenn es nicht hohe und tiefe Töne gibt, und keine lebenden Wesen ohne Weibliches und Männliches, was doch Gegensätze sind.“
Im Leben entwickelt sich vieles aus dialektischen Spannungsverhältnissen heraus. Das entspricht der altchinesischen Vorstellung von Yin und Yang als polare, sich gegenseitig anregende und antreibende kosmische Kräfte. Gegensätze sind eine notwendige Voraussetzung für Harmonie, Gelingen, Glück und Wohlbefinden. Es ist die momenthafte Vereinigung und Befriedung von Unterschiedlichem, das Zusammentreffen und die Verbindung von Getrenntem, das zeitweise Mitschwingen des Andersartigen. Es hilft, sich dessen stets bewusst zu sein, um die Kunst zu erlernen, Spannungen, Sehnsucht, Trennung, Leiden und Lasten zu tragen in dem Bewusstsein, dass ihr gelegentliches Erscheinen unabdingbar ist und dass sie der Preis für neu erlebtes Glück und neue Freuden sind.
Die Menschen wissen nur, dass das Leben eine Freude ist, aber nicht, dass es auch bitter ist.
Das Zitat stammt aus dem Buch des chinesischen Philosophen Liezi, der Konfuzius zitiert. Es lautet im Zusammenhang:
„Konfuzius sprach: … Die Menschen im Allgemeinen wissen nur, dass das Leben eine Freude ist, aber nicht, dass es auch bitter ist. Sie wissen nur, dass das Alter hinfällig ist, aber nicht, dass es auch friedlich ist. Sie wissen nur, dass der Tod ein Übel ist, aber nicht, dass er auch Ruhe gibt.“
Ein zentraler Gedanke im antiken Weisheitsdenken im Okzident wie Orient war die Einsicht, dass die Gegensätze in der Welt notwendig zusammengehören. Wir sind hineingeboren in Spannungen, Konflikte und ein Spiel vieler gegensätzlicher Energien. Auch im Innern der Seele herrschen gegenläufigen Kräften und Begierden. Eine weise Lebensführung kann an dieser Grundtatsache nichts ändern. Allerdings vermag das verinnerlichte Wissen dieser Tatsache helfen, mit den Gegensätzen besser umzugehen, insbesondere sich durch sie nicht die Lebensfreude nehmen zu lassen. Häufig jedoch verschließt sich der Mensch diesem Wissen, lässt es nicht in Fleisch und Blut übergehen, verankert es nicht in seinen Gefühlen. So verharrt er in einer einseitigen Sichtweise und weigert sich, die Gegensätze in der Welt anzunehmen, insbesondere wo sie seinem Weltbild und seiner Wunschvorstellung widersprechen. So leidet er, wenn die Wirklichkeit von seiner Vorstellung abweicht. Er leidet unter seiner Unwissenheit und der Unfähigkeit, die Welt so anzunehmen, wie sie ist. Das ist der Grund, warum vielen Menschen die Gelassenheit abhandenkommt, wenn etwas ihren Erwartungen zuwiderläuft. Darauf spielt das Zitat an.
Es kommt alles darauf an, welche Gewohnheiten wir annehmen.
Bei Aristoteles lesen wir:
„ … Und ganz ebenso ist es mit den Anlässen zur Begierde oder zum Zorne: die einen werden mäßig und sanftmütig, die anderen zügellos und jähzornig, je nachdem sie in solchen Fällen sich so verhalten oder so, mit einem Worte: aus gleichen Tätigkeiten erwächst der gleiche Habitus. Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus. Und darum ist nicht wenig daran gelegen, ob man gleich von Jugend auf sich so oder so (an etwas) gewöhnt; vielmehr kommt hierauf sehr viel oder besser gesagt alles an.“
„Habitus“ meint hier ein verinnerlichtes Muster im Denken, Fühlen oder Handeln. Es sind die Haltungen eines Menschen. Sie machen maßgeblich seinen Charakter aus. Indem wir bei bestimmten Anlässen immer gleich reagieren, etwa verständnisvoll oder zornig, verfestigt sich dieses Verhaltensmuster zu einer Gewohnheit, so dass sich später bei gleichen Anlässen dieselbe Reaktion automatisch einstellt. Diese Muster können wir ändern, indem wir abweichende Reaktionen solange einüben, bis sich eine neue Gewohnheit verfestigt hat. Stört uns beispielsweise, dass wir auf Kritik stets ungehalten und verletzt reagieren, so können wir das ändern, indem wir uns vornehmen, bei der nächsten Kritik ganz bewusst gelassen zu reagieren und in Zukunft dieses andere Reaktionsmuster „eintrainieren“. Das wird uns nicht sogleich gelingen, aber mit der nötigen Achtsamkeit und Selbstkontrolle werden wir Fortschritte erzielen. Auf diese Weise kann man aus sich denjenigen Menschen machen, der man sein will. „Mach dich selbst glücklich!“ sagte Seneca. Das aber erfordert Einsicht, Entschlossenheit und Beharrlichkeit im Einüben.
Nur die höchststehenden Weisen und die tiefststehenden Narren sind unveränderlich.
Der Ausspruch stammt von Konfuzius. Zuvor ist die Rede davon, dass das praktische Üben von Gelerntem im täglichen Leben und die dadurch entstehenden Gewohnheiten es sind, die dem Charakter der Menschen, die ursprünglich gleich geboren werden, d.h. ohne Geewohnheiten, ihre jeweilige Individualität verleihen. In dem Zitat sagt Konfuzius, dass es nur zwei Menschengruppen gibt, die ihre Persönlichkeit nicht (mehr) durch bewusste Lebensführung verändern: vollendete Weise und Narren. Wer aber die Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten seiner lebendigen Persönlichkeit erkennt und spürt, dass etwas im Innern ihn dazu drängt, sein Potential zu entfalten und auszuleben, der möchte nicht stehenbleiben, sondern jeden Tag etwas hinzulernen und ein wenig klüger werden. Er möchte werden, der er ist. „Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere …“, schreibt Goethe in einem Brief an Lavater.
Es gilt, schlechte Gewohnheiten auszurotten, aber harmlose Gewohnheiten zu dulden.
Im „Buch der Wandlungen“ (Yijing, I Ging) heißt es beim 30. Doppelzeichen (Das Haftende, das Feuer) zur obersten Linie (jedes Doppelzeichen besteht aus sechs Linien, denen je nach Lage und Zusammenhang eine bestimmte Bedeutung zukommt):
„Der
König zog aus, um die Dinge in die rechte Ordnung zu bringen. Vom Himmel mit
dem Sieg gesegnet, vernichtete er den Anführer (der Rebellen). Von einer
Bestrafung der Anhänger (des Anführers) sah er jedoch ab – kein Verstoß!“
Richard
Wilhelm, ein guter Kenner der altchinesischen Philosophie, erläutert die Stelle
wie folgt:
„Der Zweck der Züchtigung ist, Zucht zu schaffen (wohltuende Ordnung), nicht blindlings Strafe walten zu lassen. Es gilt, das Übel an der Wurzel zu heilen. Im Staatsleben gilt es, die Rädelsführer zu beseitigen, aber die Mitläufer zu schonen. Bei der Selbstbildung gilt es, schlechte Gewohnheiten auszurotten, aber harmlose Gewohnheiten zu dulden. Denn allzu strenge Askese führt wie allzu strenge Strafgerichte zu keinem Erfolg.“
In den alten Weisheitstexten, insbesondere bei den Chinesen, findet sich häufig der Hinweis, dass wir bei der Anwendung von weisen Lebensregeln eine gewisse Flexibilität und Milde wahren und starre Rigorosität vermeiden sollten. Das Weiche siegt immer, heißt es bei Laotse. Wir sollen an unseren Schwächen arbeiten, aber stets aus einer Haltung nachsichtiger Liebe zu uns selbst heraus. Diese Liebe ist kein Narzissmus, sondern Dankbarkeit gegenüber dem Geschenk des Lebens, von dem wir wissen, dass es im Bereich des Menschlichen unvollkommen ist.
Indem wir etwas häufig tun, wird theoretisch Gelerntes zu praktischem Können.
Bei Aristoteles lesen wir:
„Die Tugenden (Weisheit) dagegen erlangen wir nach vorausgegangener Tätigkeit, wie dies auch bei den Künsten der Fall ist. Denn was wir tun müssen, nachdem wir es (theoretisch) gelernt haben, das lernen wir (anzuwenden), indem wir es tun. So wird man durch Bauen ein Baumeister und durch Zitherspielen ein Zitherspieler. Ebenso werden wir aber auch durch gerechtes Handeln gerecht, durch Beachtung der Mäßigkeit mäßig, durch Werke der Tapferkeit tapfer.“
Bei allem Lernen und Fortbilden im Hinblick auf unsere Lebensweise sollten wir uns immer wieder bewusst machen, dass rein kopfmäßiges Lernen solange nutzlos bleibt, wie wir unser Verhalten nicht ändern und dadurch zeigen, dass das Gelernte „in Fleisch und Blut“ übergegangen und zu einer Eigenschaft unseres Charakters geworden ist. Erst dann wird es zu einem Automatismus, der unser Verhalten zuverlässig steuert. Wo das nicht der Fall ist, da mögen wir zwar viel Gutes wissen, tun es aber nicht.
Man darf nicht zulassen, dass sich schlechte Angewohnheiten entwickeln.
Das sagte der ehemalige Samurai und spätere Mönch Yamamoto Tsunetomo und fährt fort: „Ist eine schlechte Angewohnheit bereits zur Regel geworden, dann helfen auch keine Drohungen mehr.“
Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass man schlechte Gewohnheiten, die einen selbst oder andere schädigen, vermeidet oder ablegt. Aber wie viele Menschen haben diese Einsicht so verinnerlicht, dass sie die Entschlossenheit, Kraft und Beharrlichkeit aufbringen, ihr Leben durch bewusste und zielstrebige Änderung ihrer Gewohnheiten, sei es im Denken, Wollen oder Handeln, freudvoller und beglückender zu machen und Leiden zu vermindern? Wie viele Menschen würden gerne weniger essen, weniger Alkohol trinken, mit dem Rauchen aufhören, mehr Zeit für die Familie und für sich haben, mehr Sport treiben, mehr lesen etc. – aber schaffen es nicht, ihre gegenteiligen Gewohnheiten umzustellen? Unterläuft nicht jedem von uns die Nachlässigkeit, dass sich einmal eine schlechte Angewohnheit einschleicht und manchmal auch festsetzt?
Erziehung erfolgt durch Eingewöhnung.
Im chinesischen „Buch der Riten, Sitten und Gebräuche“ (Liji) lesen wir:
„Die Musik ist es, woran die Heiligen sich freuen, und man kann damit die Gesinnung der Menschen bessern. Sie beeinflusst die Menschen tief, sie ändert die Bräuche und wandelt die Gewohnheiten. Darum bewirkten die früheren Könige durch sie ihre Erziehung.“
Wenn Menschen weiser leben wollen, müssen sie solche Denk-, Wollens- und Verhaltensgewohnheiten ändern, durch die sie sich selbst oder andere schädigen. Die Denker der Antike waren davon überzeugt, dass der Großteil des menschlichen Leids von solchen schlechten Gewohnheiten herrührt. Der Mensch ändert seine Gewohnheiten, indem er veränderte Haltungen lebt und einübt („Gesinnung“). Dies setzt nicht nur eine tiefgehende intellektuelle, sondern auch eine körperlich wirkende Beeinflussung und Wandlung voraus. Das ist der Weg jeder Erziehung und Persönlichkeitsbildung. Konfuzius, auf den der Text zurückgehen dürfte, war – wie übrigens Platon und Aristoteles auch – fest davon überzeugt, dass von der Musik eine solche positive tiefe Beeinflussung ausgehen kann: Sie „ändert die Bräuche und wandelt die Gewohnheiten“. Daher sei die Beschäftigung mit der Musik wichtig für die Charakterbildung. Sie hat eine harmonisierende und beruhigende Wirkung.
Durch häufige Nachahmung wird ein Verhalten zur Gewohnheit und zweiten Natur.
In Platons „Staat“ sagt Sokrates: „Oder hast du (Adeimantos) nicht gemerkt, dass die Nachahmungen, wenn sie von Jugend auf ununterbrochen fortgesetzt werden, zur Gewohnheit und (andern) Natur werden in Beziehung auf den Leib ebenso wie auf Rede- und Denkweise?“
Dass wir eine Lebensweisheit intellektuell begreifen, heißt noch lange nicht, dass wir sie auch umsetzen und danach leben. Hinzukommen muss ein Prozess des Angewöhnens und Verinnerlichens, der das Wissen in eine Verhaltens- oder Denkgewohnheit umwandelt. Dies geschieht in der Regel durch beharrliche Wiederholung, geht die Weisheit auf ein Vorbild zurück, so führt Nachahmung zur Verinnerlichung. Gute Vorbilder sind sehr wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Ein beharrliches Nachahmen findet nicht nur bei Verhaltensweisen statt, sondern auch im Denken, Vorstellen und Bewerten. Wahrscheinlich sind die Wirkungen, die von solchen „Denkgewohnheiten“ für unser Leben und unser Wohlbefinden ausgehen, noch wesentlich bedeutender als diejenigen, die von unseren Verhaltensgewohnheiten ausgehen. So sind wir beispielsweise gewohnt, den Tod als ein Übel anzusehen mit der Folge, dass wir in vielfältiger Weise Ängste entwickeln. Die Weisheit der Alten lehrte dagegen, dass der Tod etwas ganz Natürliches, Notwendiges und für unser Glücksempfinden sogar Unentbehrliches ist. Können wir diesen Gedanken verstehen und seine Wahrheit einsehen und verinnerlichen, werden wir viele Ängste ablegen.
Liebe Freunde/innen der Weisheit,
es sind noch Plätze frei bei dem Web-Tagesseminar über "Goethes Lebensweisheit - Eckermanns Gespräche mit Goethe" am kommenden
Samstag, den 27. Mai 2023, 09:30 h - 18:00 h
Ein bekannter Goetheforscher sagte einmal, es sei das größtes Glück, sich mit Goethe beschäftigen zu können. Goethes Lebensweisheit gehört zu den wichtigsten Quellen der Menschenkenntnis und einer gelingenden Lebensführung. Von besonderer Bedeutung sind dabei die "Gespräche mit Goethe" von Johann Peter Eckermann. Für Nietzsche war es das "beste deutsche Buch". Ich lade Sie herzlich ein, mit mir ausgewählte Passagen aus diesem Buch daraufhin zu untersuchen, was wir daraus für unser Leben lernen können.
Technische Voraussetzungen: Computer, Handy oder
iPad und eine Internetverbindung.
Anmeldung per E-Mail: massundmitte@gmx.de
Weitere Termine dieser kleinen Reihe in 2023 sind:
Samstag, den 30. September 2023, 09:30 h - 18:00 h
Samstag, den 11. November 2023, 09:30 h - 18:00 h
Die Seminare bauen nicht aufeinander auf, so dass sie einzeln gebucht werden können. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Gebühr pro Seminar: 129,- €. Im Einzelfall kann auf die Seminargebühr auf Antrag verzichtet.
Anmeldung: E-Mail an massundmitte@gmx.de
Es gibt zwei Sitzungen am Vormittag à 90 min. und zwei Sitzungen am Nachmittag à 75 min. Es sollten ausreichend Pausen vorhanden sein. Texte und Einwahldaten sende ich nach erfolgter Anmeldung zu. Die Teilnehmerzahl ist auf max. 12 begrenzt.
Beste Grüße
Ihr
Albert Kitzler
Der Weise zieht sich in sich selbst zurück und ist mit sich allein.
Das Zitat stammt von dem römischen Philosophen Seneca und lautet im Zusammenhang:
„Ähnlich steht es mit dem Weisen: er zieht sich in sich selbst zurück, ist mit sich allein. Allerdings, solange er seine Verhältnisse ganz nach freiem Ermessen ordnen kann, verheiratet er sich bei aller Selbstgenügsamkeit und bekommt auch Kinder, und trotz aller Selbstgenügsamkeit wird er doch nicht leben wollen, wenn er ohne Menschen leben sollte. Nicht sein Nutzen zieht ihn zur Freundschaft hin, sondern ein natürlicher Reiz ...“
Nach Seneca hat der Mensch neben dem Bedürfnis nach Rückzug, Sammlung und Besinnung ein tiefes Bedürfnis nach Miteinander, Gemeinschaft, Geselligkeit, nach „gelingenden Resonanzachsen“. Entlang solcher Resonanzachsen wirken wir auf andere Menschen und sie auf uns, berühren wir andere innerlich und lassen uns anrühren, bewegen wir und werden wir bewegt, lieben wir und werden wir geliebt. Der Soziologe Hartmut Rosa hält stabile Resonanzachsen für eine wesentliche Voraussetzung, ja für die Essenz eines gelingenden Lebens. Der Mensch strebt nach einem glücklichen Leben, das er nur finden kann, wenn er zugleich erfüllende, von Verständnis, Liebe und Zuneigung getragene mitmenschliche Beziehungen erlebt und pflegt. Er folgt damit der ersten und tiefsten Prägung, die er als werdendes Leben im Leib der Mutter erfahren hat: das Genährt- und Getragenwerden, das Geschützsein, Umsorgtsein, Geliebtsein, das körperliche Einssein, das pulsierende Miteinander, die Wärme und Geborgenheit im Innern. Wo es daran mangelt, da entstehen seelische Probleme.
Einsam auf sich geworfen erkennt und entfaltet der Mensch sein Selbst.
So können wir folgende Bemerkung des Konfuzius verstehen:
„Meister Dsong (Schüler des Konfuzius) sprach: Ich habe vom Meister gehört, wenn ein Mensch sein eigenes Selbst noch nicht entfaltet habe, dass das sicher in einer Trauerzeit geschehen werde.“
Die Trauerzeit ist häufig eine Zeit der Besinnung, in der wir auf uns selbst und unsere eigene Endlichkeit verwiesen werden. Wir denken über den Sinn unseres Lebens nach und erleben immer wieder Momente existentieller Einsamkeit. Es ist eine Art Grenzsituation. Konfuzius hebt die positive Seite dieses Zustands hervor: Er bietet die Gelegenheit, unser „eigenes Selbst“, unsere tiefsten Bedürfnisse und Werte (wieder) zu spüren, uns unserer Haltungen, unseres Selbst- und Weltverständnisses zu vergewissern und uns von negativen Emotionen und Vorstellungen zu reinigen. Im alten China dauerte die Trauerzeit bei dem Tod eines Familienangehörigen üblicherweise drei Jahre.
Wer in der Einsamkeit gern lebt … der ist zur Göttlichkeit gereift.
In der altindischen Bhagavadgita wird das Ideal und Vollendung eines Yogis so beschrieben:
„Wer in der
Einsamkeit gern lebt,
Mit Fasten Leib und
Sinn kasteit,
Wer fromme
Selbstbetrachtung übt,
Sich von der
Leidenschaft befreit;
Wer Selbstsucht,
Wollust, Dünkel, Zorn,
Und Prahlsucht völlig
abgestreift,
Gelassen, ohne Habe
ist,
Der ist zur
Göttlichkeit gereift.“
Die „nackten Weise“, wie die alten Griechen die Yogis nannten (wörtliche Übersetzung des griechischen Worts „Gymnosophisten“), haben ihren Leib und ihre Begierden überwunden, in sich das Göttliche gefunden und sind eins geworden mit ihm. Erstorben sind alle Begierden. Sie haben Glückseligkeit erlangt. Kein negatives Gefühl trübt ihr gereinigtes Bewusstsein. Wir werden diesen Zustand nicht erreichen und wohl auch nicht anstreben wollen. Aber wir können von diesem Ideal lernen, durch innere Einkehr, Meditation, Körperbeherrschung und Selbsterkenntnis, durch Konzentration, Pflege und Ausbildung unserer geistig-spirituellen Kräfte und Anlagen, durch Maß und Mitte und Entsagung schädlicher Begierden negative Gefühle zu überwinden und einzudämmen. Je weiter wir auf diesem inneren Weg der Persönlichkeitsentwicklung voranschreiten, umso mehr werden wir uns von Ängsten, Sorgen, Zorn, Gier und Selbstsucht befreien. Wir werden gelassener, gütiger und zufriedener mit unserem Leben. Ein Teil dieses Weges ist es, uns immer wieder zurückzuziehen, uns zu sammeln und innerlich zu reinigen, unsere Identität und unser Wesen neu zu erspüren, um unser Denken, Sprechen, Wollen und Handeln danach auszurichten („Wer in der Einsamkeit gern lebt“).
Dann gingen sie in die Einsamkeit, um sich dort zu heilen.
Von den Pythagoreern, einer auf Pythagoras (6. Jh. v. Chr.) zurückgehenden philosophischen Richtung aus den griechischen Kolonien in Unteritalien, wird Folgendes berichtet:
„Und es galt bei ihnen als Grundsatz, dass weisen Menschen nichts, was Menschen widerfahren könnte, unerwartet kommen dürfe, sondern dass man auf alles gefasst sein müsse, was nicht im Machtbereich von einem selber läge. Wenn es ihnen aber doch einmal widerfuhr, dass sie in Zorn oder Kummer oder ähnliche Gemütsbewegungen gerieten, dann gingen sie in die Einsamkeit, und dort versuchte ein jeder, mit sich allein ins Gericht gehend, seine Leidenschaft zu meistern und zu heilen.“
Die besinnliche Reflexion in einsamer Zurückgezogenheit kann die emotionalen Verzerrungen beseitigen, mit denen wir häufig ein Ereignis oder das Verhalten eines anderen Menschen vorschnell be- und verurteilen. Es kann eine getrübte Selbstwahrnehmung, einen von Emotionen und Vorurteilen verstellten Blick auf uns selbst reinigen und klären. Der erste Teil des Zitats bezieht sich auf eine in der Antike entwickelte Methode, sich vor Enttäuschungen und Frustration zu bewahren, die sog. praemeditatio malorum, das Vorweg-Bedenken eines negativen Ausgangs einer Unternehmung. Bei allem, was wir tun, meinte Seneca, sollten wir uns gleich am Anfang sagen: „… wenn nichts dazwischen kommt“. Aus dem arabischen Kulturkreis ist das häufig verwendete inschallah („in scha allah“ = so Gott will) bekannt, das denselben Sinn hat. Es geht zurück auf folgende Stelle im Koran (Sure 18, Vers 23-24): „Und sag ja nicht im Hinblick auf etwas (was du vorhast): ‚Ich werde dies morgen tun‘, ohne (hinzuzufügen): ‚wenn Gott will‘! Und gedenke deines Herrn … und sag: ‚Vielleicht wird mich mein Herr (künftig) zu etwas leiten, was eher richtig ist als dies (d. h. als meine vorherige Handlungsweise)‘!“
Ich ruhe in mir still und ungeteilt, ein Heimatloser, der nicht weiß wohin.
Das Zitat stammt von dem chinesischen Philosophen Laotse und lautet im Zusammenhang:
„ … ich ruhe in mir
still und ungeteilt
dem kinde gleich, der
mutterbrust noch nicht entwöhnt
ein heimatloser, der
nicht weiß wohin …“
Für Laotse ist die Einsamkeit das Schicksal des Menschen. In gewisser Hinsicht kann sie auch sein Ziel sein: Die auf sich selbst gestellte, in sich ruhende Selbstgenügsamkeit war ein weit verbreitetes Ideal antiken Weisheitsdenkens. So ist die Einsamkeit für Laotse zwar die Tragik des menschlichen Lebens, insofern wir unter ihr leiden. Andererseits ist es eben dieses Leiden, das uns zu intensiver Selbstbesinnung und zu einer Änderung selbstschädigender Denk- oder Verhaltensweisen führen kann. Sie ist nährend. In einer anderen Übersetzung lautet der Abschnitt:
„O Einsamkeit, wie lange dauerst Du?...
Die Weltmenschen sind
hell, ach so hell;
nur ich bin so trübe.
Die Weltmenschen sind
klug, ach so klug;
nur ich bin tief
verschlossen in mir,
unruhig, ach, als wie
das Meer,
wirbelnd, ach, ohne
Unterlass.
Alle Menschen haben
ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie
ein Bettler.
Ich allein bin anders
als die Menschen:
doch ich halte es
wert,
Nahrung zu suchen bei
der Mutter.“
„Die Menschen sind so hell“ meint, sie tun so, als wüssten sie alles; „sind klug“ meint berechnend, geschickt in der Durchsetzung ihrer Interessen; „haben ihre Zwecke“ meint, sie sind voller Pläne und Absichten. Mit „Nahrung bei der Mutter suchen“ kann ein Kraftschöpfen aus dem Innersten der eigenen Seele oder ein Berühren des Seinsgrundes in meditativer Versenkung gemeint sein. Am Ende dieses Abschnittes, der von Selbstmitleid gekennzeichnet ist – ein seltenes persönliches Bekenntnis bei Laotse – kommt seine Aufhebung: Zwar bin ich einsam, aber bin (eben dadurch) bei mir selbst und in der nährenden Geborgenheit der Mutter Natur.
Ich verließ die Heimat und ging in die Hauslosigkeit.
Der historische Buddha (Siddharta Gautama) verließ als Jüngling sein königliches Vaterhaus sowie Frau und Kind und begab sich auf eine lange Pilgerschaft, bis er schließlich unter einem Baum die Erleuchtung fand. Den Abschied beschreibt er wie folgt:
„Kurze Zeit danach (nachdem er begonnen hatte, tiefer über das Leben nachzudenken) zog ich als Jüngling in schwarzdunklem Haar, mit glücklicher Jugend begabt und im ersten Mannesalter, gegen den Wunsch von Vater und Mutter, die mit Tränen überströmtem Antlitz klagten, nachdem ich mir Haar und Bart abgeschnitten und gelbe Gewänder angelegt hatte, hinaus aus dem Hause in die Hauslosigkeit.“
Vielleicht sollte jeder Mensch einmal die „Hauslosigkeit“ (Einsamkeit) aufsuchen, um ganz zu sich selbst zu kommen. Vielleicht sollte er dies im Kleinen sogar regelmäßig tun, um sich immer wieder seiner Lebenswerte und seiner Bestimmung zu vergewissern. Es muss nicht gleich eine längere Pilgerreise mit dem Ziel „innerer Umkehr“ sein. Auch eine Tageswanderung oder eine besinnliche Stunde in einem Café, ein paar Notizen in einem Tagebuch, kann zu mehr Klarheit in bedrängenden Fragen des eigenen Lebens führen. Für den Wachen und Offenen ist achtsame Selbstbeobachtung, „Evaluierung“ und kontinuierliches Nachjustieren ein inneres Bedürfnis, das Leben eine Wanderschaft, ein Weg, kein Ankommen. Er wünscht, jeden Tag ein bisschen weiser zu werden.
Einsamkeit und Geselligkeit sind hilfreiche Ergänzungen.
Das ist der Sinn folgender Stelle bei dem römischen Philosophen Seneca:
„Doch muss man beides verbinden und miteinander abwechseln lassen, Einsamkeit und Geselligkeit. Wie die erstere in uns die Sehnsucht nach Menschen weckt, so die letztere die Sehnsucht nach uns selbst, und beide werden einander hilfreich ergänzen …“
Im antiken Weisheitsdenken wurde das zeitweilige Alleinsein als eine Quelle der Sammlung und Selbstfindung angesehen. Als Meditation und Besinnung stellt es eine notwendige Ergänzung zum gesellschaftlichen Leben dar. Die Alten erkannten den positiven Effekt von Perioden des Alleinseins: das Für-sich-Sein und die Gelegenheit des Zu-sich-Kommens, der persönlichen Reintegration und Einswerdung, der Selbstversicherung und seelischen „Reinigung“. In solchen Phasen wird der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen, spürt sich wieder, erkennt, was für ihn wichtig ist und was nicht, was ihm langfristig guttut oder eher schadet, vergewissert sich seiner Werte, kommt in seine Mitte und ins Gleichgewicht, bestenfalls in die Geborgenheit im eigenen Innern. So bietet das Alleinsein die Gelegenheit, sich näherzukommen. Das alles stellt sich jedoch nicht von selbst ein, und viele leiden unter dem Alleinsein, weil sie den positiven Effekt für sich nicht zu nutzen verstehen. Der Umgang mit sich selbst ist gestört. Bisweilen fehlt es auch an ausreichender Selbstliebe.
Als du mit dem Leben deine körperliche Gestalt erhieltest, da hat sich die Krankheit gebildet.
Bei dem chinesischen Philosophen Liezi sagt der „göttliche Arzt“, eine fiktive Gestalt:
„Deine Krankheit kommt nicht vom Himmel noch von Menschen noch von Geistern. Als du mit dem Leben deine körperliche Gestalt erhieltest, da hat sie sich gebildet. .... Was sollen die Arzneien und Pulver nützen?“
Die Krankheit ist genauso natürlich wie die Gesundheit. Sie zu akzeptieren heißt, das Leben zu nehmen wie es ist. Heitere Gelassenheit, die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und die kostbare Fähigkeit zu dulden beruhen auf einem verinnerlichten Wissen von den unabänderbaren Bedingungen des menschlichen Lebens. Die Unwissenheit verwechselt Wunsch und Wirklichkeit und gerät ins Leiden. Der letzte Satz des Zitats mag ein Hinweis darauf sein, dass es beim Gesundwerden vor allem auf die Selbstheilungskräfte des Körpers ankommt. Wie schon der griechische Arzt Hippokrates bemerkte, ist die Aufgabe des Arztes und der Medikamente darauf beschränkt, diese Kräfte zu aktivieren und zu unterstützen.
Das Herz leeren. Den Bauch füllen. Stärken die Knochen.
Der Ausspruch stammt von Laotse und lautet im Zusammenhang:
„So also herrscht der Weise:
Das Herz leeren.
Den Bauch füllen.
Stärken die Knochen.
Schwächen den Willen.“
Der Weise „herrscht“ über die Gesundheit seines Körpers und seiner Seele, d. h. es liegt weitgehend an ihm, durch seine Lebensweise und seine Haltungen, durch sein Denken, Wollen und Verhalten die Gesundheit von Körper und Seele zu bewahren. „Das Herz leeren“ und „den Willen schwächen“ bedeutet Selbstgenügsamkeit und den Verzicht auf die Erfüllung seiner Begierden, Sehnsüchte und Wünsche. Nach Laotse erfreut sich der Weise an dem, was da ist und ihm zufällt, und hängt nicht an dem, was nicht da ist und verlorengeht. Ein solches „Fasten des Herzens“ verbürgt ihm die „Gesundheit“ der Seele und wegen der Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele weitgehend auch die des Körpers.
Jede Krankheit ist traurig; aber der Weise versteht es, krank zu sein.
Der Satz stammt aus der altägyptischen Spruchsammlung des Anch-Scheschonki. Weisheit ist Lebenskunst, die Fähigkeit, mit Unglück, Schicksalsschlägen und negativen Umständen so umzugehen, dass die Seele nicht aus dem Gleichgewicht gerät, sondern trotz der Beeinträchtigung eine innere Ruhe und Festigkeit bewahrt (Resilienz). Vor allem in der Not, etwa während einer Krankheit, bewährt sich eine weise Geisteshaltung und Lebensart. Wir bewundern Menschen, die auch im Krankheitsfall oder bei Schicksalsschlägen nicht den Lebensmut verlieren und durch Standhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Duldsamkeit zeigen, dass sie in sich eine Kraft und Stärke besitzen, ihre Zuversicht und positive Grundstimmung nicht zu verlieren. Seneca wies einmal darauf hin, dass es nicht darum geht, eine Krankheit schönzureden, sondern sie tapfer zu ertragen. Die Alten sprachen von einer „Kunst des Tragenkönnens“.
Für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern.
Das Zitat stammt von Epikur und lautet im Zusammenhang:
„Wer jung ist, soll nicht zögern zu philosophieren, und wer alt ist, soll nicht müde werden im Philosophieren. Denn für keinen ist es zu früh und für keinen zu spät, sich um die Gesundheit der Seele zu kümmern. Wer aber behauptet, es sei noch nicht Zeit zu philosophieren oder die Zeit sei schon vorübergegangen, der gleicht einem, der behauptet, die Zeit für die Glückseligkeit sei noch nicht oder nicht mehr dar. Darum soll der Jüngling und der Greis philosophieren, der eine, damit er im Alter noch jung bleibe an Gütern durch die Freude am Vergangenen, der andere, damit er gleichzeitig jung und alt sei durch die Furchtlosigkeit vor dem Künftigen. Wir müssen uns also kümmern um das, was die Glückseligkeit schafft (herbeiführt): wenn sie da ist, so besitzen wir alles, wenn sie aber nicht da ist, dann tun wir alles, um sie zu besitzen.“
Philosophieren über Fragen der Lebensführung führt zu seelischer Gesundheit. Diese ist nichts anderes als nachhaltiges Glück. Seelische Gesundheit aber ist innere Ausgeglichenheit, Freiheit von leidvollen Konflikten und schmerzlichen negativen Gefühlen, harmonisches Miteinander aller seelischen Kräfte und Phänomene. Praktische Philosophie bei Epikur ist Seelenheilkunde im weiteren Sinne, insbesondere im Hinblick auf seelische Alltagsleiden wie Angst, Sorgen, Überforderung, Zorn, Wut, Ärger, Neid, Eifersucht, Missgunst, Gier, Überheblichkeit, Entfremdung, maßlose Leidenschaft und Trauer, übertriebener Ehrgeiz und anderes mehr.
Es ist die Bewegung, die Körper und Geist gesund hält.
Das ist
der Sinn des folgenden Ausspruchs des chinesischen Politikers, Kaufmanns und
Philosophen Lü Buwei:
„Fließendes Wasser fault nicht.
Türangeln werden nicht wurmstichig –
denn sie bewegen sich.
Gleiches gilt auch für Körper und Geist.“
Mit der Beweglichkeit des Geistes, die Lü Buwei neben der körperlichen Bewegung empfiehlt, dürfte gemeint sein, dass der Mensch offen und zugewandt lebt, dass er immer bereit ist, etwas Neues zu lernen und das Gelernte im Leben auszuprobieren und umzusetzen. Eine lebendige Persönlichkeit ist in ständiger Entwicklung begriffen und folgt in ihrer Lebensführung – unter Wahrung ihrer Identität und Authentizität – dem Wandel der Zeit. Das hält sie jung, wach und seelisch gesund.
Das Glück des Menschen besteht in körperlicher Gesundheit und Seelenruhe.
Das war die Auffassung des griechischen Philosophen Epikur:
„… Eine unverwirrte Betrachtung dieser Dinge (der Begierden) weiß jedes Wählen und Meiden zurückzuführen auf die Gesundheit des Leibes und die Beruhigtheit der Seele; denn dies ist das Ziel eines glücklichen Lebens. Um dessentwillen tun wir nämlich alles: damit wir weder Schmerzen noch eine Beunruhigung der Seele empfinden. Sobald einmal dies an uns geschieht, legt sich der ganze Sturm der Seele.“
Statt „Beruhigtheit der Seele“ würden wir heute „Ausgeglichenheit“, „innere Harmonie“ und „Gelassenheit“ sagen, ein Zustand des „Seelenfriedens“: Man ist mit sich im Reinen, fühlt sich wohl in seiner Haut, lebt so, wie man leben möchte. Die „Beunruhigung der Seele“ ist eine Störung des inneren Gleichgewichts durch Ängste, Sorgen, Stress, Neid, Eifersucht und ähnliche belastende Affekte.
Wenn das Herz um seinen Besitzer zu sehr besorgt ist, dann schafft es ihm Krankheit.
Der Ausspruch stammt aus einem ägyptischen Papyros (sog. „Papyros Insinger“). Im Zusammenhang lautet er:
„Lass die Sorge nicht überhand nehmen, damit
du nicht verstört wirst.
Wenn das Herz um seinen Besitzer (zu sehr)
besorgt ist, dann schafft es ihm Krankheit.
Wenn (zu große) Sorge aufkommt, sucht das
Herz selbst seinen Tod.
Gott ist es, der dem Weisen Geduld
verleiht im Unglück.
Der Gottlose, der Gott vergessen hat,
stirbt an Herzenstrübsal.
Eine kurze Zeit des Unglücks ist im Herzen
des Ungeduldigen wie eine lange Zeit.“
Das „Herz“ war bei den alten Ägyptern Sitz sowohl der Gedanken und der vernünftigen Überlegung wie der Emotionen. Das Zitat lässt vermuten, dass schon die alten Ägypter ein ausgeprägtes Bewusstsein von psychosomatischen Zusammenhängen hatten. Weil die übermäßige, verzehrende „Sorge“ für die Antike in Ost und West einer der größten Feinde der körperlich-seelischen Gesundheit war, zielen viele Weisheiten auf eine Lebensführung, die Sorgen vermeidet oder verringert, vor allem dann, wenn sie eine Dauerbelastung darstellen und die Freude am Leben nachhaltig beeinträchtigen. In die gleiche Richtung geht die abschließende Behauptung, dass Duldsamkeit ein Unglück verkleinert bzw. verkürzt. „Gott“ meint hier keinen persönlichen Schöpfergott. Wir sollten darunter eher eine unpersönliche kosmische Macht, eine Art Naturgesetzlichkeit begreifen.
Du wirst aufhören zu fürchten, wenn du aufhören wirst zu hoffen.
Der Ausspruch stammt von Hekaton von Rhodos. Er war Stoiker. Diese versuchten, ihren inneren Frieden gegen jegliche Schicksalsschläge dadurch zu bewahren, dass sie das äußere Ergebnis ihres Wollens und Handelns nicht bewerteten und für „gleichgültig“ ansahen (griechisch: adiaphore). Das Wichtigste sei, dass man stets das als richtig Erkannte tut und mit sich selbst im Reinen ist. Für die Stoiker hieß das: Stets tugendhaft (weise) zu handeln sei die Pflicht und das Glück eines Menschen. Dann mag das Ergebnis des Tuns sein, wie es wolle; man hat das getan, was das eigene Wesen von einem fordert und was dem Sinn der Existenz entspricht. Das authentische, stimmige Leben ist wichtiger als der äußere Erfolg. Da der Stoiker deshalb von der äußeren Welt nichts erhofft, braucht er auch nichts von ihr zu fürchten. Tatsächlich erhöht die so gewonnene Furchtlosigkeit die Wahrscheinlichkeit, die äußeren Ziele, die der Stoiker wie jeder Mensch hat und deren Eintritt er durchaus für „wünschenswert“ hält, zu erreichen. Denn in der Ruhe und Gelassenheit einer furchtlosen Seele liegt eine große Kraft und Energie. Zur praktischen Umsetzung dieses Gedankens empfahl Seneca, man solle sich bei jeder Unternehmung im Hinblick auf das Gelingen gleich zu Beginn sagen: „wenn nichts dazwischenkommt“.
Das in der Meditation erfahrene Selbst kennt keine Furcht.
Dies dürfte der Sinn folgender Stelle aus den indischen Upanishaden sein, dem philosophischen Teil der altindischen Veden:
„Wenn nun einer so eingeschlafen ist ganz und gar völlig zur Ruhe gekommen, dass er kein Traumbild erkennt, das ist das Selbst ... das ist das Unsterbliche, das Furchtlose, das ist das Brahman.”
Eigentlich ist hier nicht die Meditation gemeint, sondern der Tiefschlaf (Sanskrit: sushupti). Wie bei der Meditation wird mit dem Tiefschlaf jedoch kein bewusstloser Zustand bezeichnet, sondern einer, in dem zwar die Aktivität des Denkens und des Ichs zum Stillstand gebracht wird, das Bewusstsein aber wach bleibt. Auf den Unterschied beider Zustände kommt es hier nicht an. Wichtig ist festzuhalten, dass an vielen Stellen in den Upanishaden die Furchtlosigkeit als ein wichtiges Ziel der philosophischen Lehre sowie der Selbsterhellung durch Versenkung in das eigene Selbst erscheint (Meditation). Richtiges, regelmäßiges Meditieren ist ein gutes Mittel, Ängste zu überwinden.
(Anmerkung: In den gestrigen Worten der Weisheit muss es „Furcht“ statt „Furchtlosigkeit“ heißen. Ich bitte, das Versehen zu entschuldigen.)
Es ist vor allem die Angst, die den Menschen nicht zur inneren Ruhe und Weisheit gelangen lässt.
So könnte folgende Stelle bei dem chinesischen Philosophen Liezi zusammengefasst werden:
„Vier Gründe sind es, dass die lebenden Menschen nicht zur Ruhe kommen: der eine ist das lange Leben, der zweite ist der Ruhm, der dritte ist der Rang und Stand, der vierte ist der Besitz. Um diese vier Dinge willen fürchten sie die Geister, fürchten sie die Menschen, fürchten sie die Macht und fürchten sie die Strafe. Die das tun, sind Menschen, die nicht zur Besinnung kommen … ihr Schicksal wird von außen her bestimmt.”
Furcht hat häufig seinen Grund darin, dass wir an Äußerem hängen und unsere wichtigsten Werte nicht in uns selbst haben. So fehlt uns die „innere Burg”, die vor den Anfeindungen von außen schützt und nicht nachhaltig erschüttert werden kann. Sie ist der Anker der Gelassenheit und Seelenruhe. Mit einer solchen „inneren Burg“ überwindet man auch seine Ängste.
Besser ist es, wenig zu haben, aber ohne Schmerz und Furcht zu leben, als Überfluss ohne Seelenfrieden.
Das Zitat stammt von Epiktet, einem ehemaligen Sklaven, der nach seiner Freilassung eine Philosophenschule gründete. Bereits in der Antike genoss er hohes Ansehen. Auch heute noch beeinflusst er die ethische Diskussion stark. Die kognitive Verhaltenstherapie knüpft an wesentliche Aussagen Epiktets an. Das Zitat ist eine Zusammenfassung folgender Passage mit einer für Epiktet typischen Zuspitzung:
„Willst du in der Lebensweisheit fortschreiten, so verzichte auf Gedanken, wie diese: ‘Wenn ich mein Vermögen außer acht lasse, werde ich nichts zu leben haben ... ’ Denn besser ist‘s, Hungers zu sterben, wenn man nur ohne Schmerz und Furcht ist, als im Überfluss zu leben, aber ohne Ruhe der Seele … Fange also mit dem Unbedeutenden an! Ein bisschen Öl ist verschüttet, ein Restchen Wein gestohlen. Nun sage dir: So viel kostet mich Gleichmut, so viel die Gemütsruhe. Umsonst ist kein Gewinn.”
Das letzte ist ein praktischer Ratschlag, wie man sich in Gelassenheit und in der wichtigen ‚Kunst des Loslassens‘ üben kann. Im Laufe der Zeit lösen wir unsere inneren Bindungen an Dinge, Verhältnisse und Zustände, werden frei und unabhängig und können umso mehr genießen, was da ist. Epiktet wusste, dass eine weise Lebensführung kontinuierlicher Übung bedarf, damit sich hilfreiche innere Haltungen bilden, etwa die Furchtlosigkeit. Auch im Verhältnis zu anderen Menschen können und sollten wir das Klammern und Anhaften vermeiden. Die schönsten und beglückendsten persönlichen Beziehungen haben ihre tiefste Kraftquelle in der inneren Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Partner. Sie klammern nicht. In Freiheit bekennen sie sich jeden Tag aufs Neue zueinander.
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Wer ohne Furcht und Hoffen ist, der ist mein Freund zu jeder Frist.
Das sind Worte des Gottes Krischna, Verkündiger der Weisheit, gerichtet an den Helden Arjuna aus der indischen Bhagavadgita. Es lohnt sich, die Verse im Zusammenhang zu lesen:
„Vor wem die ganze Welt nicht bangt,
Wer vor der ganzen Welt nicht bangt,
Wer ohne Freude, Neid und Angst,
Auch der hat meine Huld erlangt.
Auch wer gleichgültig, rein und klug,
Wer ohne Furcht und Hoffen ist,
Selbstsücht‘gen Handelns sich
begibt,
Der ist mein Freund zu jeder Frist.”
In der Zeile „Selbstsücht‘gen Handelns sich begibt” klingt an, wie es zu verstehen ist, dass der Mensch auf sein Wollen und Hoffen verzichten soll und damit auch die Angst überwindet. Es ist damit nicht vollständige Untätigkeit oder Wunschlosigkeit gemeint, sondern lediglich der Verzicht auf selbstsüchtiges Wollen. Um es mit Aristoteles zu umschreiben: verzichtet werden soll auf den schlechten, weil rücksichtslosen und unweisen Egoismus, der nur ein beschränktes „Ich“ sieht, seine wichtigsten Bedürfnisse, nämlich die nach Liebe und einem harmonischen Miteinander, aber übergeht und missachtet. Ein solcher Egoismus kommt nicht ans Ziel, die volle Entfaltung seiner selbst in liebender Gemeinschaft, und schadet sich am Ende selbst. „Freude” meint hier „oberflächliches Vergnügen”, „gleichgültig” meint „gelassen”.
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Ehe die Niedriggesinnten erreicht haben, wonach sie streben, bangen sie um den Erfolg. Haben sie ihr Ziel erreicht, bangen sie des möglichen Verlustes wegen.
Konfuzius führt uns mit diesen Worten zu den Ursachen von Furcht und Angst. Sie liegen in unseren Begierden und unserem Wollen. Daher setzt die gesamte antike Weisheitslehre bei der Suche nach dem menschlichen Glück als einem angstfreien Wohlbefinden immer wieder bei der Begierde an. Die unterschiedlichen Empfehlungen gehen im Wesentlichen dahin, entweder auf sie ganz zu verzichten, sie zu zügeln oder ihr nachzugehen wie etwas, das man für wünschenswert hält, ohne aber auf die Wunscherfüllung fixiert zu sein. „Gelingt es“, sagt Konfuzius an anderer Stelle, „so freue ich mich, gelingt es nicht, so freue ich mich auch.“ Schließlich wird empfohlen, einer Begierde nur dann nachzugehen, wenn dies in der Folge weder zu Leiden noch zu Ängsten führt. Konfuzius enthält sich einer Lösung des Problems und beschränkt sich darauf, in schlichten Worten die Ursache der Ängste zu benennen und darauf hinzuweisen, dass unweise lebt („Niedriggesinnte”), wer nicht Herr seiner Begierden ist.
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Weisheit, die sich vor nichts fürchtet, ist das allerwertvollste Gut und höchster Ehre würdig.
Das Zitat stammt von dem griechischen Philosophen Demokrit. Die Wendung „sich vor nichts fürchten” kann auch übersetzt werden mit „vor nichts erstaunen” oder „sich von nichts einschüchtern lassen”. Beides liegt nahe beieinander. Cicero sagt über Demokrits „allerwertvollstes Gut”: „Er nennt jenes höchste Gut ‘Wohlgemutheit’ und oft ‘Athambíe’, d.h. einen Gemütszustand, der frei von Angst und Schrecken ist.”
Weisheit ist ein Weg, Angst und Furcht zu überwinden, weil sie lehrt, die Welt und unser Leben in allen Facetten zu verstehen und sie so anzunehmen, wie sie sind. Sie weiß um die Vergänglichkeit aller Dinge und Verhältnisse. Deshalb bindet sie sich nicht an Äußeres und enthält sich der Hoffnung in zukünftige Dinge und das Eintreten von positiven Ereignissen. Gelingt etwas, freut sie sich, wenn nicht, freut sie sich auch. So fürchtet sie auch keine äußeren Missgeschicke, weil sie erkannt hat, das Glück und Unglück nicht im Äußeren, sondern in der eigenen Seele liegen. Ängste wurden von den antiken Weisheitslehren in West und Ost als eines der größten Hindernisse des Menschen auf dem Weg zu Weisheit und Glück angesehen.
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Es gibt ein Organ des Mißwollens, der Unzufriedenheit in uns … Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger wird es.
Übt man schlechte Gewohnheiten ein, so trägt man vor allem selbst den Schaden. In einem Gespräch mit dem Kanzler Friedrich von Müller, einem seiner engsten Vertrauten, sagte Goethe einmal:
„Es gibt ein Organ des Mißwollens, der Unzufriedenheit in uns, wie es eines der Opposition, der Zweifelsucht gibt. Je mehr wir ihm Nahrung zuführen, es üben, je mächtiger wird es, bis es sich zuletzt aus einem Organ in ein krankhaftes Geschwür umwandelt und verderblich um sich frißt, alle guten Säfte aufzehrend und ansteckend. Dann setzt sich Reue, Vorwurf und andere Absurdität daran, wir werden ungerecht gegen andere und gegen uns selbst. Die Freude am fremden und eignen Gelingen geht verloren; aus Verzweiflung suchen wir zuletzt den Grund alles Übels außer uns, statt es in unserer Verkehrtheit zu finden. Man nehme doch jeden Menschen, jedes Ereignis in seinem eigentümlichen Sinne, gehe aus sich heraus, um desto freier wieder bei sich einzukehren.“
Im letzten Satz fordert uns Goethe auf, jedem Menschen und jedem Ereignis zunächst einmal wertfrei zu begegnen und dabei Vorurteile beiseite zu lassen („ … in seinem eigentümlichen Sinne, gehe aus sich heraus … “). Kanzler von Müller, der uns dieses Gespräch überliefert hat, fügt an: „Unvergessliche, herrliche Worte, aus tiefster Menschenkenntnis hervorgegangen.“
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Erkenne, was Dir guttut und richte all Dein Begehren und Dein Handeln danach aus.
Das dürfte der Sinn folgender Stelle bei Epiktet sein, der ein freigelassener Sklave war, bevor er zu einem hoch angesehenen Lehrer der stoischen Philosophie wurde. In dem Abschnitt „Von dem, was man üben muss, um ein guter Mensch zu werden“, heißt es:
„Drei Gebiete sind
es, in denen man sich üben muss, wenn man sittlich gut werden will.
Das erste betrifft das Begehren und Vermeiden, damit uns weder fehlschlägt, zu
bekommen, was wir begehren, noch dass wir in das hineingeraten, was wir
ablehnen.
Das zweite Gebiet betrifft die Entschlüsse, etwas zu tun oder zu lassen, und
damit den Bereich der pflichtmäßigen Handlungen. Da hat man sich zu üben, dass
man in geordneter Weise, aus guten Gründen und nie gedankenlos handelt.
Das dritte Gebiet hat es zu tun mit der Verhütung von Irrtum und unbegründeten
Urteilen … .“
Mit anderen Worten: Man soll sich darin einüben, nur das zu wollen, was einem dauerhaft guttut und womit man weder sich selbst noch andere schädigt. Bei allem, was man tut, soll man sich ferner darin üben, dieses Wollen konsequent umzusetzen und nicht Dinge zu begehren und zu verfolgen, die mit Leiden enden. Schließlich soll man üben, die Folgen des eigenen Wollens stets genau zu prüfen, ob sie wirklich dauerhaft Wohlbefinden verschaffen. Viele sehen die weiteren Folgen ihres Handelns nicht und tun Dinge, die, hätten sie diese im Voraus erkannt, nicht getan haben würden.
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Liebe Freunde/innen der Weisheit,
ich möchte nochmals hinweisen auf die
Philosophische Matinee im Web am kommenden Sonntag, den 30. April 2023, 10-12 Uhr.
Es geht um das Thema "Entsagung" und welche Bedeutung sie für ein gelingendes Leben hat. Philosophische Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Zur Teilnahme benötigen Sie einen Computer, Tablet oder Smartphone sowie einen Internetzugang. Zitate zur Anregung unserer Diskussion finden Sie im Anhang.
Die Einwahldaten lauten:
Zoom-Meeting beitreten
https://us02web.zoom.us/j/82042888956?pwd=VVZ2b083QXc5djdnVkErUTk0VGpZZz09
Meeting-ID: 820 4288 8956
Kenncode: 819454
Sie brauchen sich nicht anzumelden. Sie können sich einfach zuschalten. Die maximale Teilnehmerzahl beträgt 25. Ist die Zahl erreicht, werden weitere Interessenten leider nicht mehr eintreten können.
Eine Teilnahmegebühr fällt nicht an. Über eine Spende an den gemeinnützigen Verein "MASS UND MITTE - Schule für antike Lebensweisheit" freuen wir uns. Die Spende ist steuerlich absetzbar. Das Spendenkonto lautet:
MASS UND MITTE
Münchner Bank eG
IBAN: DE58 7019 0000 0002 5719 35
BIC: GENODEF1M01
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Für Kurzentschlossene!
Es sind noch Plätze frei:
Wochenendseminar
12.-14. Mai 2023, im Tagungshaus "Die Wolfsburg"/Mühlheim an
der Ruhr
Thema: "Shankara und die Upanishaden – Höhepunkte indischer Philosophie"
Zu einem guten Leben gehört
Spiritualität
Dauer: Freitag, 18:00 h bis Sonntag, 13:00 h
Leitung:
Dr. Albert Kitzler
Seminarort: Falkenweg 6, 45478 Mülheim an der Ruhr
Unterkunft/Verpflegung/Seminargebühr: 544,-
€
Zum Seminarhaus: www.die-wolfsburg.de
Anmeldung: E-Mail an massundmitte@gmx.de
Schopenhauer schrieb über die Upanishaden: „Es ist die belohnendste und erhabenste Lektüre, die auf der Welt möglich ist: sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.“
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Pallas Athene - die Göttin der Weisheit
Gestern hielt Pallas Athene, Göttin der Weisheit, Einzug in das "Haus der Weisheit" in Reit im Winkl. Endlich ist die Lücke gefüllt, die ein unbesetztes Podest im Eingangsbereich des Hauses, in dem bei Seminaren das Symposion (gemeinsames Abendessen) stattfindet, freigelassen hatte. Die 1,73 m große originalgetreue Kopie der jungfräulichen Pallas Athene des griechischen Bildhauers Myron zählt neben seinem Diskobolus (Diskuswerfer) zu den bedeutendsten Skulpturen der griechisch-römischen Antike. Das Original (eine römische Kopie einer verloren gegangenen griechischen Bronze) steht im Liebieghaus in Frankfurt. Die ursprüngliche Bronze wurde von Myron etwa in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. geschaffen und war auf der Akropolis in Athen aufgestellt, bekannt als Athena-Marsyas-Gruppe.
Mit Hilfe von Spenden, für die ich mich bei allen Spendern herzlich bedanke, konnte die Schule MASS UND MITTE eine Kopie der Frankfurter Athena für das "Haus der Weisheit" erwerben. Ursprünglich war die Anschaffung einer Kopie des "Wagenlenkers" vorgesehen. Da die Spenden für diese recht teure Bronze und deren Transport aus Athen nicht ausreichten, haben wir uns für die Pallas Athene entschieden und den Erwerb des Wagenlenkers auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Gemeinsam mit seinem Sohn Frank Bertolin hat der italienische Bildhauer Silvano Bertolin die originalgetreue Kopie der Pallas Athene für uns angefertigt. Silvano Bertolin, 85 Jahre alt, arbeitete als Restaurator für die angesehendsten Museen der Welt. Er gilt als "einer der fähigsten Restauratoren seiner Generation" (Wikipedia). Er hat seine Werkstatt neben der Glyptothek in München, wo er uns gestern die Skulptur übergab. Noch am gleichen Tage haben wir sie nach Reit im Winkl transport und im "Haus der Weisheit" aufgestellt. Nunmehr thront die Schutzgöttin des Odysseus, dem griechischen Ideal eines weisen Menschen, auch in unserem Haus und soll allen Besuchern an ihrer Weisheit teilhaben lassen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Albert Kitzler
Das Wasser fließt ununterbrochen und kommt ans Ziel … So wandelt der Edle in dauernder Tugend und übt das Geschäft des Lehrens.
Das Zitat stammt aus dem Text zum 29. Doppelzeichen des chinesischen I Ging (Buch der Wandlungen), das für „Wasser“ oder das „Abgründige“ steht. Der Übersetzer Richard Wilhelm kommentiert die Stelle wie folgt:
„Das Wasser erreicht sein Ziel durch ununterbrochenes Fließen. Es füllt jede Vertiefung aus, ehe es weiterfließt. So macht es der Edle (Weise). Er legt Wert darauf, daß das Gute zur festen Charaktereigenschaft wird, nicht zufällig und vereinzelt bleibt. Auch bei der Belehrung anderer kommt alles auf die Konsequenz an. Denn nur durch Wiederholung wird der Stoff zum Eigentum des Lernenden.“
Wenn etwas noch nicht hinreichend geübt worden ist, heißt es im Liji (Buch der Sitten, Riten und Gebräuche), wird es häufig übertreten.
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Übe das Gute bis es Dein Wesen wird.
So könnte man den Sinn folgender Passage bei dem indischen spirituellen Lehrer Sri Sri Ravi Shankar zusammenfassen. Er spricht darin von „Gelübden“, was wir auf jede Art guter Vorsätze übertragen können:
„Lege ein Gelübde nicht auf Lebenszeit ab, sonst wirst du es sofort brechen. Nimm dir zunächst einen überschaubaren Zeitraum vor und vergrößere dann langsam die Dauer, bis das neue Verhalten zu deinem Wesen wird. Und wenn du ein begrenztes Gelübde einmal brichst, dann mach dir keine Vorwürfe und fang einfach von Neuem an.“
Nur wer seine wichtigsten Vorsätze auch umsetzt, lebt ein selbstbestimmtes Leben. Wo nicht, leiden wir schon darunter, dass wir es nicht fertigbringen, so zu leben, wie wir eigentlich leben wollen. Wenn man sich vornimmt, eine schädliche Gewohnheit abzulegen oder eine neue, gesunde und wohltuende Gewohnheit anzunehmen, braucht man Einsicht in das Gute und den Nutzen der geänderten Verhaltensweise, Entschlossenheit, Beharrlichkeit und eine wirksame Technik des Einübens. Von letzterem ist in dem Zitat die Rede.
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Du wirst zu dem, was Du tust.
Sokrates lehnte es ab, den Beruf seines Vaters zu übernehmen, denn der war Steinmetz und Sokrates fürchtete, wenn er dies lange betreibe, werde er zu Stein. Bei Aristoteles klingt dieser Gedanke so:
„Wie nämlich einer jeweils tätig ist, so wird er selber. Das zeigt sich an denjenigen, die sich um irgendeinen Sport oder eine Arbeit bemühen; denn sie betätigen sich fortwährend darin. Nicht zu wissen also, dass aus der andauernden Tätigkeit in bestimmten Dingen die Eigenschaften entstehen, zeigt ein Mangel an Einsicht.“
Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass man das, was man als gut, wohltuend und nährend für sich erkannt hat, auch praktiziert und übt, damit es in Fleisch und Blut übergeht und zu einem Teil der Persönlichkeit und des Charakters wird. Gelingt dies und bringt man die dafür erforderliche Beharrlichkeit und Konsequenz auf, so lebt man am Ende in Übereinstimmung mit seinen Werten, Zielen, Vorstellungen und inneren Haltungen. Diese Übereinstimmung mit sich selbst ist eine der wichtigsten Quellen der Zufriedenheit und des persönlichen Glücks. Es ist schwer, immer, überall und in jeder Situation „sich selbst treu zu bleiben“. Je mehr es uns aber gelingt, umso besser fühlen wir uns.
So tut sich der Edle mit seinen Freunden zusammen zur Besprechung und Einübung.
Mit diesen Worten wird das Bild zum 58. Doppelzeichen des I Ging beschrieben, des ältesten Weisheitsbuchs der Menschheit. Das Doppelzeichen steht für das Heitere, der See. Dort heißt es:
„Wahre Freude beruht
also darauf, daß im Innern Festigkeit und Stärke vorhanden sind, die nach außen
hin weich und milde auftreten.“
Der Übersetzer Richard Wilhelm erläutert das Eingangszitat wie folgt:
„Die Wissenschaft soll eine erfrischende
und belebende Kraft sein. Das kann sie nur werden im belebenden Verkehr mit
gleichgesinnten Freunden, mit denen man sich bespricht und übt in der Anwendung
der Lebenswahrheiten. So wird das Wissen vielseitig und bekommt eine heitere
Leichtigkeit, während das Wissen der Autodidakten immer etwas Schweres und
Einseitiges behält.“
Wissen, das sich auf die Lebensführung bezieht, muss praktiziert und eingeübt werden, wenn es unser Denken und Handeln bestimmen soll. In alle antiken Schulen, in denen philosophiert wurde, finden wir die Elemente des gemeinsamen Gesprächs und Einübens wieder. Besonders die Inder und Chinesen waren überzeugt davon, dass Lernen ohne die Gemeinschaft und den Lehrer nicht nachhaltig ist. Die philosophischen Schulen im alten Griechenland waren daher vielfach eine Art Lebensgemeinschaft.
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Ethik ist Lebenspraxis und besteht darin, sich in etwas zu üben und auf diesem Wege seine Persönlichkeit zu entwickeln.
In seinen Erläuterungen zum „Achtfachen Pfad“
Buddhas, eine seiner Hauptlehren, schreibt der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh:
„Der Buddha konzentrierte sich darauf,
wie wir die Lehren im alltäglichen Leben umsetzen können. Das ist Ethik. Die
Praxis, das sich in etwas Üben, ist dabei zentral, denn dadurch entstehen
Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht. Diese drei Energien sind die Grundlage
aller buddhistischen Praxis und buddhistischen Ethik. ... Achtsamkeit
Konzentration und Einsicht helfen uns einen Pfad zu schaffen, der zu Frieden
und Glück, Transformation und Heilung führt. Es ist sehr wichtig, dass wir
Ethik nicht als etwas Abstraktes auffassen, sondern als etwas Lebenspraktisches.
Unsere Einsicht leitet und hilft uns, Mitgefühl, Verstehen, Harmonie und
Frieden für uns und die Welt aufzubringen.“
Wenn etwas nicht so lange eingeübt wird, bis es zu einem Teil von uns selbst wird, unsere „zweite Natur“ (Aristoteles), eine feste innere Haltung, ein selbstverständliches Denk- oder Verhaltensmuster, wird es immer wieder zu Übertretungen kommen. Wenn wir uns aber nicht an das halten, was wir für richtig und gut halten, werden wir im Innern mit uns hadern, weil wir uneins mit uns selbst sind. Das ist uns nicht immer bewusst, aber häufig Ursache dafür, dass wir uns nicht wohlfühlen und unzufrieden sind.
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Nur wer weise lebt, bekommt, was er will, die anderen bekommen, was sie nicht wollen.
Bei Xunzi lesen wir über die Selbsterziehung des Menschen:
„Wenn also die Menschen sich darauf verstehen, fleißig zu üben, achtsam mit ihren Gewohnheiten umzugehen und das Wachsen und Kultivieren der eigenen Persönlichkeit wertzuschätzen, dann werden sie zu edlen Menschen (Weise). Wenn sie ihren angeborenen Trieben und Begierden und ihrer Natur nachgeben und sie nicht ausreichend hinterfragen und studieren, dann werden sie zu unbedeutenden (rohen) Menschen. Wer ein Edler (Weiser) wird, hat beständige Sicherheit und Charaktergröße. Wem das nicht gelingt, ist ständiger Gefahr und Schande ausgesetzt. Jeder will Sicherheit und Charaktergröße und verabscheut Gefahr und Schande. So kann nur der Edle bekommen, was er will, während der unbedeutende (rohe) Mensch jeden Tag bekommt, was er nicht mag.“
Hier zeigen sich Parallelen des altchinesischen Denkens mit der stoischen Philosophie. Dieser ging es darum, einen Weg zu einem menschlichen Glück zu finden, das unabhängig ist vom Schicksal und den jeweiligen Lebensumständen. So entwickelten die Stoiker das Ideal der „Unerschütterlichkeit des Weisen“, den nichts auf Dauer aus seiner heiteren Lebensruhe bringen kann. Dass der Weise nach Xunzi in „Sicherheit“ lebt, meint dasselbe. Der Weg dahin ist Erkenntnis, achtsamer Umgang mit seinen Gewohnheiten, das Einüben nährender und die Aufgabe schädlicher Gewohnheiten. Dadurch wächst die Persönlichkeit und entsteht Charaktergröße. Die „angeborenen Trieben und Begierden … hinterfragen und studieren“ meint – wie Epikur es empfohlen hat –, sich zu fragen, was wird geschehen, wenn ich einer Begierde nachgebe.
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In seinem Verhalten muss der Mensch seinen natürlichen Begierden und Trieben widerstehen, um seine Persönlichkeit zu kultivieren.
Hier kommt Xunzis Grundüberzeugung zum Ausdruck, dass der Mensch von Natur aus wie ein ungeschliffener Edelstein ist und dass unkontrolliertes Ausleben der natürlichen Impulse häufig zum Schaden für sich selbst und andere führt. Das Gute kommt erst dann in die Welt, wenn der Mensch sich selbst zur Güte erzieht oder von anderen dahin erzogen wird. Es geht nicht darum, die eigene Natur zu verleugnen, zu ignorieren oder zu vergewaltigen, sondern das Vorhandene zu formen. Wie Michelangelo aus einem Marmorblock durch Wegnehmen eine schöne Gestalt meißelt, so muss der Mensch nach Xunzi durch Mäßigung, Zügelung und Formung lernen, die inneren Kräfte zu beherrschen, zu lenken und auf das hinzuleiten, was er für gut und wohltuend hält. Dies so zu tun, dass dabei am Ende eine „schöne Gestalt“ herauskommt, sprich ein guter Mensch, der sich an seinem Leben erfreut und auch andere glücklich macht, ist nicht einfach.
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Wenn die Menschen an sich arbeiten, sich gute Gewohnheiten aneignen und sie zu einem festen Bestandteil ihrer Persönlichkeit machen, wird ihr Leben gelingen.
Das ist der Sinn der folgenden Stelle bei Xunzi:
„Wenn gewöhnliche Menschen auf der Straße und das einfache Volk Güte ansammeln und sie ganz und vollständig machen, werden sie Weise genannt. Sie müssen danach streben und nur dann werden sie es erlangen. Sie müssen daran arbeiten und nur dann werden sie es erreichen. Sie müssen es vermehren und sammeln und nur dann wird ihre Persönlichkeit wachsen. Sie müssen es vervollständigen und nur dann werden sie Weise. Der Weise ist also das Produkt eines kontinuierlichen Bemühens. Wenn Menschen Erfahrungen im Jäten und Pflügen sammeln, werden sie Bauern. Wenn sie Erfahrungen im Hacken und Schnitzen sammeln, werden sie Handwerker. Wenn sie Erfahrungen im Verkaufen und Verkaufen sammeln, werden sie Kaufleute. Wenn sie Erfahrungen in Ritualen (Übungen) und Yi (Tugend, Güte) sammeln, werden sie edle Menschen (Weise).“
Es kommt darauf an, selbst- und fremdschädigendes Denken, Wollen und Handeln durch das Üben und Praktizieren gegenteiliger Gewohnheiten („Rituale“) abzulegen. Wir sind für die Formung unseres Charakters selbst verantwortlich. Unser Charakter aber ist unser Schicksal (Heraklit).
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Das Lernen endet damit, es in die Praxis umzusetzen, und wird dadurch vollendet.
Der Satz stammt aus einer Passage, in der Xunzi erläutert, was richtiges Lernen bei der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit bedeutet. Größten Wert legt er dabei auf tiefes Verstehen und vor allem auf die Umsetzung des Gelernten im täglichen Leben.
„Nicht davon gehört zu haben, ist nicht so gut, wie davon gehört zu haben. Davon gehört zu haben, ist nicht so gut, wie es gesehen zu haben. Es gesehen zu haben, ist nicht so gut, wie es zu wissen. Es zu wissen, ist nicht so gut, wie es in die Praxis umzusetzen. Das Lernen endet damit, es in die Praxis umzusetzen, und wird dadurch vollendet. Denn etwas in die Praxis umzusetzen heißt, es zu verstehen, und es zu verstehen heißt, ein Weiser zu sein. Der Weise stützt sich auf Ren (Mitmenschlichkeit) und Yi (Tugendhaftigkeit), trifft genau, was richtig und falsch ist, und bringt seine Worte und Handlungen vollständig in Übereinstimmung ohne den geringsten Fehltritt. Dazu gibt es keinen anderen Weg als kontinuierliche Umsetzung.“
Selbstkultivierung ist Weiterentwicklung und Transformation der eigenen Persönlichkeit. Weise ist, wer verstanden hat, wie man sein Leben am besten führt und sich dahin erzieht, dass er das auch umsetzt und so lebt. Ohne es zu wissen leiden viele Menschen darunter, dass sie sich selbst nicht treu bleiben und nicht stets den Werten, Vorstellungen und Lebenszielen folgen, die sie im Innern für richtig halten. Tatsächlich leben sie nicht, wie sie eigentlich leben wollen. Das hat weniger damit zu tun, dass die äußeren Umstände dies nicht erlauben, denn es geht dabei vor allem um die Wahrung der inneren Haltungen.
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Orientiere dich an großen Vorbildern und übe dich ständig in guten Gewohnheiten, die deine Entwicklung fördern.
So könnten wesentliche Aspekte des folgenden Abschnitts bei Xunzi zusammengefasst werden:
„Wenn ein Mensch den Vorbildern der hundert Könige so leicht folgen kann wie das Unterscheiden von Schwarz und Weiß, und wenn er sich an Veränderungen in der aktuellen Zeit so leicht anpassen kann wie das Zählen von eins und zwei – wenn er Rituale praktiziert und sich an die richtige Ordnung hält und sich in diesen ebenso wohlfühlt wie in seinen vier Gliedern, und wenn seine Fähigkeit, Gelegenheiten zu ergreifen und Erfolge zu erzielen, so beständig ist wie das Kommen der vier Jahreszeiten, wenn seine Güte, die Menschen friedlich zu regieren und zu harmonisieren, so groß ist, dass Massen von Millionen vereint sind, als ob sie eine einzige Person wären, so jemand kann ein Weiser genannt werden.“
Die „hundert Könige“ dürften mythische Gestalten gewesen sein, die für Herrscher standen, die in idealer Weise das Land zum Wohle des Volkes und unter Wahrung eines allgemeinen Friedens regierten. Ihre ethischen Prinzipien sollten verinnerlicht und zu selbstverständlichen Denk- und Handlungsmustern werden. Dies geschieht durch kontinuierliches Üben entsprechender Gewohnheiten („Rituale praktizieren“). Die „richtige Ordnung“ ist die, die das friedliche Zusammenleben der Gemeinschaft sicherstellt und in dem jeder die Möglichkeit hat, sich zu entfalten und zufrieden zu leben („Gelegenheiten zu ergreifen und Erfolge zu erzielen“). Der Text richtete sich vor allem an politische Führungspersonen, bezog sich aber auf jeden Menschen. Individual- und Sozialethik fielen im antiken Weisheitsdenken zusammen. Wer sich selbst im rechten Sinne kultiviert, nützt auch der Gemeinschaft.
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Daher kultiviert der Weise das, was im Inneren ist, und lässt die äußeren Dinge los.
Für die alten Chinesen war Weisheit eines der höchsten Lebensziele. Die Weisheit genoss einen so großes Ansehen, dass sich die Landesfürsten darin überboten, die weisesten Berater an ihrer Seite zu haben. Der bedeutende Konfuzianer Xunzi, von dem das Zitat stammt, hat das Wesen des Weisen häufig umschrieben. So auch in folgender Passage:
„Ein
weiser Mensch zu sein bedeutet also, ein reicher Mensch zu sein. Daher ist der
Weise edel, ohne einen Titel zu besitzen, und reich, ohne ein Gehalt zu haben.
Er ist vertrauenswürdig, ohne dass er gesprochen hat, und er ist
ehrfurchtgebietend, ohne dass er heftig werden muss. Er lebt in Armut, ist aber
ehrwürdig, lebt in Abgeschiedenheit, ist aber glücklich. Liegt das nicht daran,
dass die Bedingungen für höchste Ehre, größten Reichtum, größte Bedeutung und
größte Autorität in ihm gesammelt sind? …
Daher
kultiviert der Weise das, was im Inneren ist, und lässt die äußeren Dinge los.
Er arbeitet daran, das Gute in seiner Person zu nähren, und kann mit allem umgehen,
indem er dem Rechten Weg folgt (Dao, Tao).“
Ähnliche Charakterisierungen finden wir in allen antiken Weisheitslehren. Danach zeichnet sich Weisheit aus durch Selbstgenügsamkeit, Bedürfnislosigkeit, Güte, Resilienz, Lebenskunst, Ausstrahlung, Kultivierung innerer und Relativierung äußerer Werte und anderes mehr. Für all das stand im chinesischen Denken das Dao, „der Rechte Weg“.
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Auch ist das Suchen und Irren gut, denn durch Suchen und Irren lernt man.
In einem Gespräch mit Eckermann bemerkte Goethe über seine Studien zur Morphologie der Pflanzen und seine Farbenlehre, mit der er sich jahrzehntelang beschäftigte:
„Das ist aber immer der Vorteil irgendeiner leidenschaftlichen Richtung, daß sie uns in das Innere der Dinge treibt. Auch ist das Suchen und Irren gut, denn durch Suchen und Irren lernt man. Und zwar lernt man nicht bloß die Sache, sondern den ganzen Umfang. Was wüßte ich von der Pflanze und der Farbe, wenn man meine Theorie mir fertig überliefert und ich beides auswendig gelernt hätte! Aber daß ich eben alles selber suchen und finden und auch gelegentlich irren mußte, dadurch kann ich sagen, daß ich von beiden Dingen etwas weiß, und zwar mehr als auf dem Papiere steht.“
Goethe beschreibt hier, was es heißt, beim Lernen eigenständig zu denken, und welchen Nutzen es hat. Man muss das Leben nicht immer neu erfinden, aber im inneren Dialog zwischen dem Lernstoff und dem eigenen Denken, darf letzteres nicht zu kurz kommen. Konfuzius, der altes Wissen liebte, sagte einmal, beim Lernen man müsse das Überlieferte mit den eigenen Erfahrungen zu etwas Neuem verschmelzen.
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Der Anfang des rechten Lebens ist das rechte Hören.
Der Satz findet sich bei dem griechischen Philosophen Plutarch am Ende seiner Beschreibung des richtigen Lernens:
„Sobald ihr die Hauptpunkte erfasst habt,
setzt euch den Rest selber zusammen: Benutzt das Gedächtnis als Leitfaden zur
Entdeckung: Nehmt die Rede des anderen wie einen Anfang und Samen entgegen, den
ihr entwickeln und großziehen sollt! Der Geist ist ja nicht wie ein Gefäß, das
gefüllt, eher wie Zunder, der entzündet werden will - so sehr besteht das, was
er in uns erzeugt, in der Initiative und dem Hinstreben zur Wahrheit!
... lasst
uns zugleich mit dem Lernen das Finden üben, damit wir uns statt einer
sophistischen oder historischen Einstellung die zuinnerst philosophische
aneignen, in der Überzeugung, dass der Anfang des rechten Lebens das rechte
Hören ist!“
Jeder nachhaltige Lernprozess hat viel mit „Selbstdenken“ zu tun, d. h. den Lernstoff eigenständig zu durchdenken. Ein anderer griechischer Philosoph beschrieb dies mit den Worten, dass es nicht darauf ankomme, was man verschlinge, sondern was man verdaue. Darauf zielt auch die Bemerkung, dass man das „Finden“ üben solle, dass es also nicht um die Kunst des klugen Redens gehe, wie bei manchen Sophisten, sondern um ein ernsthaftes Erkennen etwa der maßgeblichen Werte für das eigene Leben. Wichtig ist auch der Hinweis Plutarchs, dass alles erfolgreiche Lernen einen „entzündeten Geist“ brauche – der Neurobiologe Gerald Hüther würde sagen „Begeisterung“ – und dass es mit achtsamem Zuhören beginne.
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Das nennt sich Erziehung? Alle
menschlichen Werte zu verlieren, wird Erziehung genannt?
Sehr kritisch und zugespitzt äußert sich der weltweit angesehene und für
sein soziales Engagement vielfach geehrte spirituelle Lehrer Sri Sri Ravi Shankar („Gurudev“) zum staatlichen
Bildungssystem. Er schreibt:
„Doch
seht, wie sie sich verändern (die Kinder), wenn sie älter werden und zur Schule
gehen. Wachsen sie in Freude, in Glückseligkeit, in Herrlichkeit auf oder
entwickeln sie sich in Richtung Gewalt, Enttäuschung, Dummheit? ... Was machen
wir mit unseren Kindern! …
Überall
ist es das gleiche; nicht ganz so sehr in den Entwicklungsländern, aber umso
mehr in den Industrienationen und besonders in den Großstädten. Dort kommen
absolut keine menschlichen Werte mehr zum Ausdruck. Sie sind noch da, aber sie
werden nicht gelebt. Deshalb herrschen dort überall Enttäuschung, Schmerz und
Leid. Wir müssen etwas dagegen tun, oder?“
Diese Kritik dürfte etwas einseitig und übertrieben sein und scheint auch nicht zwischen Erziehung und schulischer Ausbildung zu unterscheiden. Es gibt viele engagierte und kompetente Lehrer/innen, die über positives Wissen hinaus auch Haltungen und ethische Werte vermitteln. Es ist jedoch eine Tatsache, dass Fächer wie Selbsterkenntnis, Selbstkultivierung, Persönlichkeitsentfaltung, Glück, Umgang mit anderen Menschen, Umgang mit dem Schicksal u.a. im Lehrplan weitgehend fehlen. Es sei daran erinnert, dass bei den „Erfindern“ der humanistischen Schulbildung zu Anfang der Renaissance – Petrarca, Salutati und andere – die Persönlichkeitsentwicklung an erster Stelle stand, erst danach die Vermittlung positiven Wissens.
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Bildung ist die Mäßigung der Jungen, der Trost der Alten, der Reichtum der Armen, der Schmuck der Reichen.
Das soll Diogenes von Sinope gesagt haben, der Philosoph, der zeitweise in einem großen Weinfass lebte. Er war ein „liebenswürdiges Lästermaul“ (Sloterdijk) und genoss großes Ansehen in Athen. Er soll einmal als Erzieher tätig gewesen sein, nachdem er in Gefangenschaft geraten und an einen wohlhabenden Geschäftsmann verkauft worden war. Dieser war so zufrieden mit der Ausbildung seiner Kinder durch Diogenes, dass er ihn in die Freiheit entließ.
Die Bildung hatte bei den Griechen einen hohen Stellenwert. Ihr Ideal war der körperlich, geistig und seelisch „gesunde“ Mensch. Sie war weniger Wissensvermittlung als vielmehr Charakter- und Körperbildung. Ihre höchste Form aber, sagt der bedeutende Philologe Werner Jaeger, war die Philosophie und Erkenntnis.
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Tue nichts, wovon du nichts verstehst, doch lasse dich belehren, soviel als nötig; so wirst du das angenehmste Leben haben.
Die Worte stammen aus den sog. „Goldenen Versen“, die von Pythagoras, teilweise auch von seinen Schülern stammen, also aus einer sehr frühen, „vorsokratischen“ Zeit des griechischen Denkens. Sie verbinden den Gedanken kluger Selbstbeschränkung auf das, was man weiß und kann, mit dem Bestreben, sein Können und Wissen ständig auszuweiten. Wer in Selbstüberschätzung etwas unternimmt oder eine Aufgabe angeht, der er nicht gewachsen ist, wird anstatt eine positive Selbstwirksamkeitserfahrung zu machen, enttäuscht und frustriert werden. Sein Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl werden geschwächt. Er wird nicht „das angenehmste Leben“ haben. Eine lebendige Persönlichkeitsentfaltung, die das Selbstwertgefühl stärkt und Freude und Erfüllung bringt, will und muss wachsen und das heißt: ständig hinzulernen, das Wissen und Können vergrößern und die eigenen Anlagen zum Erblühen bringen.
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Doch ohne Fehler zu machen, würden wir nichts lernen. Wenn Sie aus Ihren Fehlern lernen, haben Sie bereits Abfall in Blumen verwandelt.
Der Ausspruch stammt von dem vietnamesischen Mönch Thich Nhat Hanh, der im vergangenen Jahr gestorben ist. Er erinnert an ein Wort des Konfuzius, wonach es nicht schlimm sei, einen Fehler zu begehen, wohl aber, nichts daraus zu lernen und ihn zu wiederholen. Bei Wanderern heißt es, wer von der Hauptroute abweicht und Umwege macht, lernt die Gegend kennen. Wir sollten uns bemühen, Fehler zu vermeiden, aber in dem Bewusstsein, unvollkommen zu sein, auch keine Angst vor ihnen haben. Sie sind eine Gelegenheit, um eine Erfahrung reicher zu werden. Weisheit ist gesammelte und verinnerlichte Lebenserfahrung. Je reicher die Erfahrung, umso weiser das Leben. Je weiser das Leben, umso weniger leiden wir an ihm.
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Das Lernen ist vollendet, wenn das Gelernte zu einer festen Gewohnheit geworden ist …
Und weiter heißt es bei dem chinesischen Philosophen Xunzi:
„ … denn dies ist der Endpunkt des rechten Weges (Dao), des Lernens, der Selbstkultivierung und der Bemühung, ein gutes Leben zu führen. … Das Lernen geht durch die Ohren, eilt zum Herzen, breitet sich in den vier Gliedmaßen aus und manifestiert sich in den Handlungen.“
Lernen in Bezug auf die richtige Lebensführung, auf diejenige, die zu einem gelingenden, freudvollen, glücklichen und erfüllten Leben führt, endet nicht beim Erkennen und Verstehen. Erst wenn das Gelernte in Fleisch und Blut übergegangen und zu einer festen inneren Haltung geworden ist, die wie ein Automatismus unser Denken, Wollen, Fühlen und Handeln bestimmt, ohne dass wir darüber noch nachdenken müssen, dann ist das Lernen vollendet und abgeschlossen. Wir haben es verinnerlicht und zu einem Teil unseres Charakters gemacht. Das ist fortschreitende Selbstkultivierung, der Weg, den Xunzi und alle antike Lebensweisheit in Orient und Okzident für ein glückliches Leben empfohlen haben. Häufig bleiben wir bei der bloßen Einsicht stehen, versäumen es aber, nach dieser Einsicht auch zu leben und zu handeln.
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Im Glück nicht stolz, im Unglück nicht niedrig sein.
Das Zitat stammt von Kleobulos von Lindos, findet sich aber – in anderen Formulierungen – häufiger in der Weisheitsliteratur aus Orient und Okzident. Wer weise lebt, findet sein Glück in sich selbst und macht es nicht von äußeren Umständen oder anderen Menschen abhängig. Denn andernfalls hängt das Glück am seidenen Faden zufälliger Ereignisse. Geschieht dem Weisen etwas Gutes, so freut er sich, aber maßvoll, da er weiß, dass äußeres Glück flüchtig ist und die wahre Quelle seines Glücks in seinem Innern liegt. Geschieht ihm ein Unglück, so erträgt er es gelassen und duldsam, da er weiß, dass die Quelle seines Lebensglücks dadurch nicht versiegen wird. Die Emotionen, die ein solcher Mensch empfindet, sind leiser, aber tiefer.
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Halte dich an alte Gesetze, aber an frische Speisen.
Die „Sieben Weisen“ scheinen auch über Humor verfügt zu haben, wie dieser Ausspruch von Periander belegt. Sich an alte Gesetze zu halten, sei es in einem Staatswesen oder im persönlichen Bereich in Bezug auf Verhaltensregeln und Lebensmaximen, kann problematisch sein. Wenn sich die Umstände wesentlich ändern, ist es weise, die Gesetze bzw. sein Verhalten klug anzupassen, um die mit dem Gesetz verfolgten Ziele auch unter veränderten Umständen zu erreichen. Weisheit gleicht dem Wasser, sagten die Chinesen, es kommt überall hin. Das Weiche siegt immer, heißt es bei Laotse, das Harte und Starre aber bricht.
Andererseits steht Prinzipientreue für Stringenz, Konsequenz, Verlässlichkeit und Geradlinigkeit. Für das gute Leben des Einzelnen wie einer Gemeinschaft sind Regeln, die sich bewährt haben, unerlässlich. Die Dauer ist die Art des Weisen, heißt es I Ging, dem Buch der Wandlungen. Weisheit ist uralt, nur der Irrtum ist immer wieder neu. Daher sagte Konfuzius über seine Weisheitslehre: „Ich schaffe nichts Neues. Ich liebe das Alte und übermittle es nur.“ Als Solon von Athen, ein anderer der „Sieben Weisen“, nachdem er durch seine Gesetzgebung einen Bürgerkrieg abgewendet hatte, nach 24-jähriger Regierungstätigkeit seine Macht freiwillig niederlegte und sich auf eine Bildungsreise begab („Greis schon bin ich und lerne immer noch dazu“, sagte er), soll er den Bürgern von Athen das Versprechen abgenommen haben, bis zu seiner Rückkehr die Gesetze nicht zu ändern. Er wusste um den Wert unverbrüchlicher Gesetze. Eine Legende aber ist es, dass er absichtlich nicht mehr zurückgekehrt sei.
Eine Frage der Weisheit ist es schließlich, zu entscheiden, wann Beharrlichkeit, wann Erneuerung gefordert ist.
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Lass deine Zunge nicht deinem Verstand vorauslaufen.
Die Worte stammen von Chilon von Sparta, einem der „Sieben Weisen“. Im gleichen Sinn heißt es bei Buddha und anderen: „Achte auf Deine Worte“. Unsere Sprache, die Worte, die wir verwenden, die Tonalität, die wir dabei anschlagen - warm, mitfühlend, laut, aggressiv - das alles spiegelt unser Denken und unsere Haltungen wider. Umgekehrt prägt auch unser Sprechen das Denken und unsere Einstellungen. Wenn wir beispielsweise über einen anderen ständig mit herabsetzenden Worten schlecht reden, so verstärken wir unsere Abneigung und unser negatives Urteil über ihn, verschließen uns ihm und kommen ihm nicht näher, obwohl er vielleicht gute Seiten hat. Wenn wir umgekehrt Worte des Verständnisses, der Zugewandtheit und des Sanftmuts benutzen, so ist unsere Haltung ihm gegenüber von Respekt, Achtung, Wohlwollen und ggf. auch von Wertschätzung geprägt, so dass wir anfänglich vielleicht vorhandene Vorurteile ablegen.
Mehrfach stoßen wir in der Antike auf die Feststellung, dass aus Gedanken Worte werden, aus Worten Taten, aus Taten Gewohnheiten, aus Gewohnheiten der Charakter, aus dem Charakter unser Schicksal. Das bedeutet nicht, dass unser Charakter das, was uns von außen geschieht und zufällt, beeinflussen kann, wohl aber, was wir daraus machen, und das ist entscheidend. In diesem Sinne wird immer wieder gesagt, dass wir selbst für unser Schicksal verantwortlich sind. Diese Einsicht hat sich bis heute sprichwörtlich überliefert: „Jeder ist seines Glückes Schmied“. So beeinflussen wir auch durch unser Sprechen unser Schicksal.
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Selbstgefälligkeit aber und Stolz führen zu schwerem Schaden.
Das Zitat stammt von Bias von Priene und richtet sich gegen Überheblichkeit, Anmaßung, Hochmut, Selbstüberschätzung, Einbildung, Arroganz und Wissensdünkel. All das bezeichnete das griechische Wort „Hybris“. Es galt als ein schwerer Charaktermangel, der früher oder später zu Leid und Verderben führt. Das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“ ist eine in allen Kulturen und Zeiten anzutreffende Grundüberzeugung der Menschen. Hybris ist nicht nur selbstschädigend, sondern auch im hohen Maß antisozial, da sie auf die Geringschätzung anderer hinausläuft, auf Herabsetzung, Missachtung, Unterdrückung, und zu Diskriminierung und Streit führt. Bereits das „Erkenne Dich selbst!“ richtete sich gegen Überheblichkeit und Hochmut, da es den Menschen daran erinnern wollte, dass jeder ein sterbliches, beschränktes und mit Fehlern behaftetes Wesen sei und sich deshalb davor hüten sollte, sich über andere zu stellen.
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Schädlich ist Mangel
an Selbstbeherrschung.
Der Ausspruch stammt von Thales von Milet, einem der „Sieben Weisen“, der in der Geschichte
der abendländischen Philosophie auch als der erste Philosoph geführt wird. Die
Selbstbeherrschung (in der heutigen Psychologie „Selbststeuerungskräfte“
genannt), wurde von dem kynischen Philosophen Krates neben der Ausdauer als das
höchste Gut angesehen. Erst die Selbstbeherrschung macht das Leben zu dem eigenen Leben. Wer sich nicht selbst die
Gesetze, Ziele, Regeln und Maximen seiner täglichen Lebensführung gibt, den
steuern andere Kräfte wie etwa andere Menschen, die Gesellschaft, die Werbung, Prägungen,
ungelöste innere Konflikte etc. Wie ein Boot ohne Steuermann treibt er im Strom
des Lebens dahin und stößt überall an, d. h. fällt von einem Unglück ins nächste
und vermeidet kein menschliches Leid.
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Fliehe die Lust, die Unlust gebiert.
Kurz aber treffend bringt Solon von Athen, der Vater der abendländischen Demokratie und einer der „Sieben Weisen“, eines der wesentlichen Prinzipien eines gelingenden Lebens auf den Punkt: Jedes Vergnügen, das sich im Nachhinein als schädlich und leidvoll herausstellt, sollte man im Vorhinein ausschlagen. Weisheit ist Vorhersehung, der Kampf des Stirnhirns, das vor einer Handlung die Folgen eines Tuns bedenkt, mit dem Reiz-Reaktions-Schema des limbischen Systems, das ausschließlich die kurzfristige Lustbefriedigung im Auge hat. Von Solon ist auch der Ausspruch „Siehe auf das Ende“ überliefert, der den gleichen Sinn hat. Cicero hat bei der Übersetzung des griechischen Wortes für Weisheit, „sophia“, erwogen, es mit dem lateinischen Wort „providentia“ zu übersetzen, das auf das Verb „providere“, vorhersehen, in die Ferne sehen, zurückgeht. Es wurde dann aber „sapientia“ von dem Verb „sapere“, wissen, verstehen.
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Gewinn ist unersättlich.
Der Ausspruch stammt von Pittakos, einem der sog. „Sieben Weisen“ des antiken Griechenlands. Die Sieben Weisen waren angesehene Persönlichkeiten aus dem 7. und 6. Jh. v. Chr., überwiegend Staatsmänner, von denen kurze Sätze – häufig nur drei Worte – zu weitverbreiteten, sprichwörtlichen Weisheiten wurden. Sie zählen zu den ersten in Worte gefassten ethischen Weisungen des Abendlandes. Aus ihnen entwickelte sich später die praktische Philosophie der Griechen. Pittakos bringt in dem Zitat die Tendenz des Menschen zum Ausdruck, errungenen Gewinn ständig vergrößern zu wollen. Die Griechen aber sahen darin eine seelische Krankheit, die sie „Pleonexie“ nannten, das Immer-mehr-haben-wollen. Dass dies nach Pittakos zu Schaden an der eigenen Seele sowie an der Gemeinschaft führt, klingt in dem Zitat deutlich an. Beim Dichter Pindar finden wir daher die beherzigenswerte Aufforderung: „Dem Glück ein Maß zu setzen, tut Not“, eine frühe Gegenposition zum ökonomischen Wachstumsdogma moderner Industriestaaten.
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